Held oder Selbstdarsteller?: Obdachloser Medienstar

Die Geschichte von Max Bryan, der wohnungslos in Hamburg lebte, hat ein gutes Ende genommen: Mit Dach überm Kopf und einem Buchvertrag.

Neues Material für sein Video-Tagebuch: Max Bryan. Bild: dpa

HAMBURG taz | Die kleine Digitalkamera, die er auf den Namen „Dreemos“ getauft hat, hält Max Bryan unauffällig in der gesenkten Hand, Diktiergerät und Mikrofon klemmen griffbereit in der Seitentasche seiner grauen Cargo-Hose. Der Mann, den Medien vor einiger Zeit gern Deutschlands bekanntesten Obdachlosen nannten, steht vor der Hamburger Tagesaufenthaltsstätte (TAS), einer Anlaufstation der Diakonie an der Bundesstraße.

Duschen gibt es in der Tageseinrichtung, einen warmen Kaffee und ein warmes Mittagessen. In dem Aufenthaltsraum mit seinem grünem Linoleumboden und den weiß oder rosé gestrichenen Wänden gleich neben dem Eingang vertreiben sich etwa zwei Dutzend Männer die Zeit. Einige sind über den Tischen zusammengesunken, andere spielen Karten, in der Ecke trocknet ein grüner Schlafsack.

Bryan will hier Material sammeln für eine neue Episode seines Videotagebuchs, seine große Leidenschaft. Seit Jahren filmt er alles. Am TAS sind an diesem Morgen Containerschlafplätze für das städtische Winternotprogramm vergeben worden. „Es gibt 96 Stück, aber mehr als 1.000 Obdachlose“, sagt Bryan, der die Straßen der Hansestadt zwar hinter sich gelassen hat, aber hin und wieder zurückkommt, um Betroffene und den örtlichen Kampf gegen die Wohnungsnot zu porträtieren.

Ein Bekannter – ein Kameramann – übernimmt für ihn das Filmen, während er einen Betroffenen ausfindig macht, der sich bereitwillig für sein Videotagebuch interviewen lässt. Tommy heißt er und sitzt mit einem Kumpel auf seinem Rucksack auf der Terrasse des TAS. Er hat Containerplatz 62 ergattert. „Toll“, sagt Bryan – und zum Abschied: „Ich wünsche Dir einen guten Winter.“

38 Jahre ist Bryan alt. Die Geschichte des kleinen Mannes mit dem angegrauten stattlichen Vollbart, den wachen Augen und den langen, meistens unter Mützen oder Kapuzen verborgenen Haaren ist etwas kompliziert. Für die einen ist er ein Held. Einer, der es mit viel Eigeninitiative geschafft hat, der eigenen Obdachlosigkeit zu entfliehen. Für andere ist die Rolleneinteilung nicht ganz so eindeutig. Für sie bleibt bisweilen unklar, wie weit die Inszenierung reicht und wo bei ihm die genaue Grenze zwischen geschickter medialer Selbstvermarktung und Authentizität verläuft.

Früher war Bryan einmal Reiseverkehrskaufmann, arbeitete in einem Reisebüro im hessischen Bad Nauheim. So erzählt er selbst es. Dann aber verliert er sich irgendwie und rutscht am Ende ab in die Obdachlosigkeit. Rund zwei Jahre lebt er auf der Straße, die meiste Zeit davon in Hamburg. Er dokumentiert seine Erlebnisse ausführlich in einem Internetblog. Samt Bildern, die er aus seinen endlosen Videoaufzeichnungen ausschneidet. Am Ende geht die Geschichte gut aus. Er kommt auf einem landwirtschaftlichen Hof nördlich von Frankfurt am Main unter. Ein Verlag zahlt ihm eine nicht unerhebliche Garantiesumme dafür, dass er seine Geschichte bis 2014 auf 400 Seiten zu Papier bringt. „Heute habe ich wieder ein Einkommen und eine Krankenversicherung“; sagt er.

Chancen, Eigeninitiative und Glück. Darum geht es für Bryan bei seiner eigenen Geschichte – und vielleicht ist es diese tröstliche Botschaft, die seine Unterstützer und Anhänger so fasziniert. „Ich hatte das Glück auf Leute zu treffen, die auf mich zugekommen sind“, sagt er. Sie hätten ihm geholfen, aus der Obdachlosigkeit zu entkommen. Deshalb, so erzählt er, mache er weiter mit dem Filmen, seinem Blog, dem Schreiben. Er will, dass Obdachlosen und Nicht-Obdachlose aufeinander zugehen. Die einen sollen Mut schöpfen. Die anderen erkennen, dass es sich lohnt, anderen die Hand zu reichen. „Das ist ein Appell an alle Menschen, die in der Lage sind, Chancen zu vergeben.“

Am 1. März 2010 verliert Bryan seine Wohnung. Kündigung aus Eigenbedarf, wie er sagt. 15 Jahre lang habe er sich damals ganz von der Welt abgekapselt, um sich mit Metaphysik zu befassen und ein Buch über die „globale Ordnung des Seins“ zu schreiben. Er habe einfach nicht loslassen können, Perfektionismus habe ihn an dieses Projekt gefesselt. Zudem leide er an Pathophobien – Angststörungen also, bei der Betroffene panische Furcht vor Ansteckung und Krankheit entwickeln.

Eine neue Bleibe findet er nicht, er landet in Hamburg auf der Straße, schläft anfangs mit anderen Obdachlosen an der Roten Flora, hält es dort aber wegen seiner Phobien nicht aus und zieht sich an die Landungsbrücken zurück. Seine Kamera hat er mitgenommen aus seinem alten Leben. Auch sein Notebook, das er im Rucksack mit sich herumträgt und auf dem er seine Filme speichert.

Dabei hätte es bleiben können, aber im Herbst 2010 passieren zwei Dinge, die den Lauf der Geschichte ändern: Max Bryan macht an den Landungsbrücken mit seiner heißgeliebten Kamera ein Bild von sich und dem Boxer Vitali Klitschko, das er kurz darauf an eine Boulevard-Zeitung gibt. Zur selben Zeit beginnt er zu bloggen: Anfang Oktober 2010 meldet er im sozialen Netzwerk Facebook ein Profil an, auf dem er fortan seine Erlebnisse und Gedanken ausführlich dokumentiert.

Beides zusammen entfaltet seine eigene Dynamik. Die Zeitung bringt eine bundesweite Geschichte über die „ungewöhnliche Beziehung“ zwischen „dem Obdachlosen und dem Boxer“, Klitschko lädt Bryan zu seinem Kampf ein. Von da an gilt Bryan als bekanntester Obdachlose des ganzen Landes. Im Internet findet er schnell eine Fangemeinde, die ihm andächtig folgt.

Ein Jahr später, im Herbst 2011 bricht Bryan dann von Hamburg aus zu einer Fahrradtour auf, verkündet, nicht eher aus dem Sattel zu steigen, bis er eine Wohnung habe. Die Presse ist dabei. Die Reise führt bis nach Hessen, an die Orte seiner Jugend, dorthin, wo alles begann. Ein Treffen mit seiner Mutter gehört dazu. Die Familienverhältnisse sind schwierig, von Heimaufenthalten schreibt er in seinem Blog. Es ist eine gute Geschichte für die Medien. Einigen erscheint sie etwas zu gut.

Schon kurz nach seinem Coup mit Vitali Klitschko kommt heraus, dass Max Bryan sich bereits einige Wochen zuvor bei der RTL-Talentshow „Das Super-Talent“ mit Dieter Bohlen bewarb, sein Castingauftritt jedoch nie gesendet wurde. Eine Kölner Film- und PR-Agentur begleitet ihn damals mit rührselig geschriebenen Presseverteiler-Berichten. Anlässlich seiner Radtour schreibt sie ein Angebot zur Erstellung eines Dokumentarfilms aus, anzubieten etwa bei N24, Sat1 und anderen. Die E-Mail landet versehentlich im Postfach des Kolumnisten Hendryk M. Broder, der sie genüsslich in seinem Blog veröffentlicht. „The Bryan Show“ titelt er und fühlt sich an eine Satire erinnert.

Vielleicht aber sind diese Dinge im Rückblick nicht mehr entscheidend. Für Bryan jedenfalls geht seine Reise am Ende gut aus. Nach vier Monaten nimmt ihn eine Frau in Bad Nauheim auf, lässt ihn zunächst in ihrem Gästezimmer übernachten und vermittelt ihn weiter an den sogenannten Gartenhof in Steinfurth, wo er eine neue Bleibe findet. „Ein großer Vertrauensvorschuss“, sagt er.

Er kann viel erzählen über das Leben auf der Straße. Von der ständigen Angst, nachts angegriffen zu werden und nicht rechtzeitig aus dem Schlafsack zu kommen. Von dem Fehlen jeglicher Privatsphäre. Von den Schwierigkeiten, einfachste Routinetätigkeiten wie Zähneputzen zu organisieren. „Viele haben aufgegeben“, sagt er über seine damaligen Begleiter aus der Obdachlosenszene. „Das zermürbt.“

Während er das erzählt, geht Bryan durch das Portugiesenviertel Richtung Landungsbrücken. Es ist seine alte Runde und er zeigt sie seinen Gesprächspartnern gern. Er präsentiert den Platz vor der Norwegischen Seemannskirche, wo er Abendbrot aß und die Trinkwassersäule am Johannisbollwerk, an der er sich abends die Zähne putzte. Seine Besichtigungstour endet an dem Fischrestaurant an den Landungsbrücken, vor dem er damals auf einer harten Sitzbank schlief.

Heute trifft er hier eine alte Bekannte, die Putzfrau des Lokals, mit der er sich damals anfreundete. 77 Jahre ist sie alt, hat rotgefärbte Haare, ein echtes Original. „Er saß hier ewig mit der Kamera“, sagt sie und lacht, während der Kameramann, der Bryan noch immer begleitet, alles für dessen Videotagebuch filmt. Sie hat ihn ins Herz geschlossen, das merkt man. Als er erzählt, dass er inzwischen ein Dach über dem Kopf hat und an einem Buch schreibt, freut sie sich ehrlich. „Er ist ja nicht dumm“, sagt sie. Und ergänzt: Eigentlich habe sie noch nie erlebt, dass es das Schicksal mit einem Bekannten gut gemeint habe. „Aber jetzt habe ich auch mal Glück mit jemandem.“

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