Avantgarde auf dem Land: Am Tisch mit den Klangkünstlern

Zwischen Hamburg und Lübeck, im Dorf Schiphorst, startet am Freitag das "Avantgarde Festival": Europas größtes Live-Event für hörbares Experiment.

"Es gibt keinen VIP-Bereich": In Schiphorst werden Heuschober und Tenne zur Bühne. Bild: Oliver König

HAMBURG taz | „Vorne Korn, hinten Korn“: So beschreibt Jean-Hervé Peron die außergewöhnlichste Übernachtungsmöglichkeit für Festivalbesucher: Ein benachbarter Landwirt hat da inmitten seines Felds gemäht und bietet nun eine kreisrunde Fläche für Zelte an. Wer keinen Platz mehr im Kornkreis ergattert, kann auf zwei normale Wiesen ausweichen, keine hundert Meter von den Bühnen entfernt.

Nähe ist das Markenzeichen des Avantgarde Festivals im schleswig-holsteinischen Schiphorst, nicht nur, weil es ohne Backstage-Bereich auskommt. „Wenn eine Musikerin oder Performance-Künstlerin sich umziehen will“, erzählt Peron, „dann tut sie das bei uns im Wohnzimmer.“ Vor 20 Jahren zog der Sänger und Gitarrist, in den 1970er-Jahren Mitglied der Krautrock-Band Faust, mit seiner Lebensgefährtin, der Künstlerin Carina Varain in das Dorf nahe Lübeck. Seit 18 Jahren verwandelt das Paar Heuschober und Tenne ihres Bauernhofs jährlich zur Bühne für experimentelle Kunst und Musik, seit 2003 offiziell – als Avantgarde Festival.

„Wir gründeten den Verein Avantgarde Schiphorst e. V., aber in unserer Scheune werden übers Jahr genauso plattdeutsche Lieder gesungen oder Theaterstücke für Kinder gespielt. Man will ja manchmal auch etwas ganz Normales sehen“, sagt Peron. Kaum in Schiphorst angekommen, trat er der freiwilligen Feuerwehr bei, seine Lebensgefährtin ist mittlerweile sogar Vize-Bürgermeisterin. „Wir sind hier akzeptiert“, erzählt der Hausherr – „wenn auch die Bauern nicht unbedingt zum Festival kommen, schauen sie doch interessiert rüber.“

Um die 600 Einwohner hat Schiphorst, etwa 400 bis 600 Musiker und Fans kommen jährlich zum Festival – damit gilt es als eines der größten Live-Events für experimentelle Musik in Europa. „’Nackt‘ auftreten, hier und jetzt ohne Soundcheck rausgehen, es gibt höchstens einen Line-Check“, beschreibt Peron die spontane, direkte, pure Art, wie performt wird – und wie wenig merkantile Aspekte hier eine Rolle spielen.

Wie es gefallen hat, kann mit den Künstlern diskutiert werden: direkt nach dem Auftritt am Lagerfeuer, das am Mittwoch angezündet wird bis Dienstag durchgängig brennt – der kommunikative Mittelpunkt des Festivals. Oder am nächsten Morgen beim Frühstück, das alle gemeinsam an langen Tischen einnehmen. Marmeladebrötchen essen, dabei Krautrock-Legenden gegenübersitzen und Konzertkritik üben: Das ist so wohl nur in Schiphorst möglich.

"Jump for Joy"

„Jump for Joy“ lautet das diesjährige Motto des Festivals, auch das kam spontan zustande, als der Veranstalter seinen Hund dabei beobachtete, wie er voll Begeisterung nach einem Schneeball schnappte. „Panou wollte im Grunde das Unmögliche, hatte aber eine Menge Spaß dabei. Ich drückte auf den Auslöser, schickte das Foto herum und eine Freundin aus Texas schrieb sofort zurück: ’Jump for joy!‘“

Jump for Joy, so nennt sich auch eine Formation, die am kommenden Samstag auftreten wird, nicht auf der größten der vier Bühnen des Gehöfts, aber vielleicht auf der atmosphärischsten: dem Heuboden. Über eine steile Holztreppe zu erreichen, tut sich ein hoher Raum auf, mit Blick auf Gebälk und in ein Spitzdach hinein. „Hier wird eher unplugged gespielt. Die intensiven, lauteren Gruppen spielen unten in der Tenne“, sagt Peron, neben Mani Neumeier, Zappi Diermaier, Chris Cutler und Geoff Leigh selbst Teil des Projekts.

Leiser wird es dieses Jahr auch um Faust: Wer funkensprühende Industrial-Kreißsägen erwartet, muss umdenken. „Das Wesen von Faust ist, sich immer wieder neu zu finden. Zappi und ich spielen allein und stellen ’Just us‘ vor, unsere CD, die Ende 2014 erscheinen wird.“

Generationswechsel in der Leitung

Neu wird ab diesem Jahr auch die Ausrichtung des Festivals sein: Jean-Hervé Peron gibt das Zepter weiter an die Tochter, Jeanne-Marie Varain. Die 24-jährige Kunststudentin wird Performances, Poetry und der bildenden Kunst mehr Raum geben. „Unser Festival soll seine Dynamik behalten – und meine Energie ist begrenzt“, sagt Peron. Die KünstlerInnen kommen dieses Jahr aus 16 Nationen. Evelina Petrova etwa hat in St. Petersburg klassisches Akkordeon studiert, aber mindestens so beeindruckend ist ihre wortlose Vokalkunst. Aus Istanbul kommt die introvertiert-träumerische Ekin Fil mit ihren entrückt-psychedelischen Klängen, aus Australien Rishin Singh, dessen Posaune auf der Bühne derart verfremdet klingt, dass niemand mehr ans ursprüngliche Material denkt.

Mit Bass und Overheadprojektor reisen John Eckhardt und Katrin Bethge aus Hamburg an: Während Wasser, Zucker und Zitronensäure sichtbar miteinander reagieren, wandelt der Bass auf Krautrock- und Dub-Spuren. Aus Japan schließlich fliegt Morihide Sawada ein – um anzuklagen: die Machtlosigkeit gegenüber der Atomindustrie, die der Welt die Fukushima-Katastrophe gebracht hat. Er spielt Minimalistisches auf einer einzelnen Snare-Drum – er braucht sonst nichts, vor allem keinen Strom.

■ 20.–22. Juni, Steinhorsterweg 2, 23847 Schiphorst.
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