Kurden im Irak: Der kurdische Staat rückt näher

Die Kurden im Irak erobern ihre heimliche Hauptstadt Kirkuk und exportieren Erdöl. Ein wichtiger Schritt in Richtung ökonomische Eigenständigkeit.

Dienstag am Rande von Kirkuk: Kurdische Kämpfer präsentieren einen Gefangenen, der Isis angehören soll. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Jahrzehntelang haben die Kurden um Kirkuk gekämpft, jahrzehntelang sind sie militärisch und politisch gescheitert. Jetzt hat ihnen die Blitzoffensive des Islamischen Staats im Irak und in Syrien (Isis) und der Abzug der irakischen Armee mehr oder weniger auf dem Silbertablett serviert, was sie sonst ohne weiteres Blutvergießen wohl nicht erreicht hätten: die Einnahme ihrer heimlichen Hauptstadt.

Dies geschieht in einem Moment, in dem die kurdische Regionalregierung erstmals Erdöl über den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan exportiert. In den vergangenen Wochen haben zwei Tanker mit je einer Million Barrel Erdöl den Hafen verlassen. Auf einer Energiekonferenz in London kündigte der kurdische Energieminister Ashti Hawrami zwei weitere Tankerladungen an. Für seine Behauptung, das Erdöl sei bereits verkauft, gibt es bisher zwar keine Beweise. Käufer dürften sich aber bald finden lassen.

Die Erdölexporte sind ein wichtiger Schritt in Richtung wirtschaftliche Eigenständigkeit. Noch ist der kurdische Teilstaat mit Regierungssitz in Erbil weitgehend von den Budgetüberweisungen aus Bagdad abhängig. Die Zentralregierung hat einen Teil der Gelder seit Anfang des Jahres zurückgehalten, um die Kurden zum Einlenken zu zwingen, und zugleich Klage gegen die Türkei wegen der aus ihrer Sicht illegalen Exporte eingereicht.

Dass dies insbesondere Ankara nicht beeindruckt, zeigt, wie radikal sich die türkische Politik gegenüber den irakischen Kurden geändert hat. Vor sechs Jahren sah die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den kurdischen Teilstaat im Nordirak noch als ernsthafte Bedrohung. Als der dortige Regionalpräsident Masud Barzani kürzlich mit einem Unabhängigkeitsreferendum drohte, hat man in Ankara nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

Gemeinsame Interessen in Sachen Energie

Zu dem Sinneswandel beigetragen hat nicht zuletzt die gemeinsame Interessenlage in Sachen Energie: Die Türkei möchte nicht nur ihre Importquellen diversifizieren, Erdogan will sein Land auch zu einem Knotenpunkt für Energieexporte nach Europa machen.

Ankara will die Ausrufung eines eigenen Staates verhindern. Gleichzeitig scheint man sich aber damit abzufinden, dass ein unabhängiges Kurdistan nur noch eine Frage der Zeit ist. Die kurdische Regionalregierung mache niemals einen Schritt zurück, sagte der kurdische Ministerpräsident Nechirvan Barzani am Tag der Einnahme von Kirkuk vor einer Woche.

Seitdem sind die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, in weitere Gebiete vorgestoßen, die zwischen den Arabern und Kurden umstritten sind. Ein Graffito an einer Hauswand in Kirkuk bringt die Stimmung unter den Kurden auf den Punkt: „Daash hat Artikel 140 umgesetzt.“ Daash ist das arabische Kürzel für Isis.

Artikel 140 bezeichnet den entsprechenden Verfassungsartikel über das Verfahren, wie der Konflikt um die umstrittenen Gebiete beigelegt werden soll. Davon wurde bislang so gut wie nichts umgesetzt – was nicht nur an der zentralistischen Politik von Ministerpräsident Nuri al-Maliki lag. In diesen Gebieten leben außer Kurden vor allem sunnitische Araber und sunnitische wie schiitische Turkmenen. Sie alle lehnen es ab, unter kurdische Oberhoheit zu geraten.

Im Augenblick mag mancher Araber oder Turkmene froh sein über die Präsenz der Peschmerga. Das dürfte sich aber wieder ändern. Teile der Araber kämpfen aufseiten der Aufständischen; an einigen Orten haben Turkmenen begonnen, sich ebenfalls zu bewaffnen.

Isis-Terror auch in Kurdistan

Darüber hinaus könnte es den Kurden drohen, dass sich die Extremisten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft festsetzen. Dass die Region Kurdistan oder gar die jetzt eroberten Gebiete vom Isis-Terror verschont bleiben, ist unwahrscheinlich.

Außerdem sind die Kurden auch auf das Wohlwollen des Iran, ihres Nachbarn im Osten, angewiesen. Dessen Regierung ist aber durchaus in der Lage, die Sicherheit der Region zu untergraben, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat.

Die Kurden mögen sich bereits als die Gewinner sehen. Das könnte sich freilich ändern – der nächste Krieg im Irak hat erst begonnen.

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