Generation 1964: German Lucky Ones

Die Kinder des geburtenstärksten Jahrgangs werden 50. Sie sind die Ersten, die im Wohlstand aufwuchsen. Grund zu feiern gibt es dennoch nicht.

Zu viel Torte gehabt? Der satte Jahrgang. Bild: imago/Chromorange

Die „verlorene Generation“ nannte der Sozialwissenschaftler Paul Nolte die 1964er. Verloren, weil sie sich nicht bewusst macht, dass sie vor einer gemeinsamen Herausforderung steht: Sie könnte glücklich sein über die Abwesenheit von Krieg und Elend, potenziert noch von stetig wachsendem Wohlstand. Aber sie hat es verpasst, dieses Glück anzunehmen und daraus einen energetischen Zustand zu entwickeln. Einer, der sie als 1964er zu etwas ganz Besonderem gemacht hätte – zu The German Lucky Ones!

Glück als kollektiver Zustand – daran sind die stärksten Gesellschaften gescheitert. Die Bedingungen dafür waren nie optimal. Oder das Glück hatte eine viel zu kurze Halbwertzeit, als dass es die Chance gehabt hätte, Millionen gleichzeitig in Brand zu stecken. So folgten auch dem universellen Glücksversprechen der Weltrevolutionen immer nur neue starre Sittenlehren, die zu befolgen kein Raum mehr ließ für ein dauerndes Glücksgefühl.

Dieser Tage geben die 50-Jährigen zwischen Passau und Heiligenhafen großzügig ein Fass Bier und Schweinebraten in Blätterteig aus, nehmen artig Gratulationen entgegen, lassen wehmütig ihre persönlichen Highlights der vergangenen Jahrzehnte vorbeiziehen. Auch wir, mein Zwillingsbruder Gregor und ich, feiern – aber ohne Schweinebraten und Bier.

Anstatt fünfzig wohlgefällige Gratulanten zu bewirten, laden wir die düstersten schwarzen Schwäne, die sich finden lassen, ins Hamburger Hotel Monopol ein. Zum Tanz auf dem Vulkan. Reeperbahn. Im eiskalten Wasser der Badewannen kühlen chinesisches Tsingtao-Bier und Billigchampagner. Die Drogen der 1980er werden wie durch Staubsauger weggezogen. Das ganze Scheißglück verbrennen wir in einer Nacht. Zum Finale schleppen wir uns in eine verkommene SM-Geisterbahn. Käfige, Andreaskreuze, Schweiß, Rotz und Tränen auf Leder.

Die größten Verlierer

Was wir in unserem Rausch ausblenden: Längst gehören wir und die 1,3 Millionen Fünfziger zu den größten Verlierern überhaupt. Denn wir haben möglicherweise eine Option für dauerhaftes Glück hingeschenkt wie eine bedröppelte Tippgemeinschaft nach einem ausgefüllten, aber nicht abgegebenen Sechser im Lotto. Nichts Verwertbares ist stehen geblieben, alles Glück durch die Finger geglitten und nichts haften geblieben, was man seinen Kindern und Enkeln erzählen könnte.

Keine schlauen Lehrsätze. Keine Kriege, keine Nöte. Kein Aufstand, also auch kein Gewissen. Keine Kaiser, keine Schützengräben, keine Vertreibung, nicht einmal Schuldgefühle. Wir 1964er hinterlassen eine klaffenden Leerstelle in den deutschen Geschichtsbüchern.

Auch Kinder des real existierenden Sozialismus waren Geburtsjahr 1964. Die haben wenigstens etwas davon gehabt, als 1989 das Glück für den Moment zu explodieren schien. Aber was sie am Ende bekommen hatten, reichte leider auch nicht aus für ein wiedervereinigtes Glücksgefühl von Dauer. Dass diese Verweigerung des Glücks, diese leise Abscheu an der Welt irgendwann abgestraft werden würden, ahnt zumindest, wer sich einmal einen längeren Zeitraum in Teilnahmslosigkeit geübt hat.

Flucht aus der Anonymität

Mittenhinein in unseren Hang-over erinnert sich Gregor in einem Moment absoluter Klarheit am Tag nach unserer Feier: nichts da mit German Lucky Ones! Unsere Schulklassen platzen doch aus allen Nähten. Wir saßen eng zusammengedrängt, wir Kinder des Friedens, hochgepeppelt von der traumatisierten Kriegsgeneration. Die ekelhafte deutsche Margarine gab’s fingerdick auf die Stullen!

Ja, es gab sie eben doch, die ultimative Herausforderung. Sie bestand in der Flucht aus der Anonymität, aus dieser Masse von Gleichaltrigen. Es ging sogar immer nur darum, besser zu sein. Energischer, zielstrebiger, fleißiger als die anderen 1,3 Millionen. Die Gewinner dieses Rennens um die besten Plätze besetzen heute die Entscheiderebenen in Politik, Wirtschaft und Kultur. Es ist die Bier- und Schweinebratenfraktion.

Uns fehlten die Vorbilder. Jene Leitplanken auf diesem unendlichen Aufmerksamkeitstrip, die unsere Eltern nicht sein wollten oder konnten in ihrem Nachkriegswohlstandsparadies. Gestrandete Kriegskinder. Überlebende. Perspektivlose. Aber Gregor kennt nun kein Pardon mehr und geht gnadenlos weiter zurück. Tränen seien geflossen, als Oma damals den so artig leer geputzten Rouladenteller ein zweites Mal üppig befüllte. „Bitte, bitte, ich schaff doch nichts mehr!“ Die Buttercremetorte wenige Stunden später rutschte schon wieder besser, runtergespült von literweise verbotener Coca. Und dann direkt im Zeitraffer von der Rouladen-Oma ins Kindererholungsheim.

Erfolgreich sediert

Nun hat sich aber die Welt der 50-Jährigen in einem schleichenden Prozess verändert. Nur dass Mutti Merkel über den Zustand der Welt zugunsten dieses deutschen Dauerglücklichseins das gleiche Schweigegelübde abgelegt hatte wie dereinst Helmut Kohl. 50-jährige Jubilare fünfzig Jahre lang kleingehalten wie dumme Kinder: der Kalte Krieg runtergekocht zum lauen Lüftchen. Die Wende mit ihren monströsen Kosten und Verwerfungen: aus der Portokasse bezahlt. Und die schmutzigen Leichen der Finanzkrise bei Nacht und Nebel im gesamteuropäischen Massengrab verscharrt.

Alles verdrängt und vergessen. Erfolgreiche Sedierung. Drei Viertel der Sedierten sind heute zufrieden mit der Arbeit von Bundeskanzlerin Merkel, sagt eine Emnid-Umfrage. Aber eben doch nicht alle. Ein paar hunderttausend müssen doch potenziell wachsam geblieben sein. Allemal genug also, die große Leerstelle im Geschichtsbuch endlich zu füllen. Die gemeinsame Herausforderung annehmen!

Aber Outlaw sein mit 50? Warum eigentlich nicht. Denn wenn das Sedativum der Zukunft diese schmale Rente sein soll, die man sich noch mit 1,3 Millionen potenziellen Anwärtern teilen muss – forget it. Dann wird es höchste Zeit, mit fünfzig endlich mal aufzustehen, die Fäuste zu heben und furchtbar mit den schwarzen Flügeln zu wedeln.

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