Die Brückenspringer von Mostar: „Du zahlst, ich springe“

Die Brücke von Mostar in Bosnien-Herzegowina galt als Sinnbild der multiethnischen Stadt. Für Edi Fink bietet sie die Möglichkeit, Geld zu verdienen.

Sie springen für die Touristen und manchmal brechen die Knochen. Bild: Gabriela M. Keller

MOSTAR taz | Turmhoch über dem Fluss, im Herzen der Altstadt von Mostar, klettert ein junger Mann in roten Badehosen auf die Brüstung der Alten Brücke. Er balanciert flink wie ein Lemur über das Geländer, in der ausgestreckten Hand eine Mütze, und sagt: „Lass mich in Ruhe, wenn du nicht zahlen willst. Du störst mein Business.“

Vor ihm hat sich eine dichte Menge versammelt, Japanerinnen mit aufgespannten Regenschirmen, spanische Reisegruppen, australische Backpacker; sie drängen näher, halten Kameras hoch, und sie alle wollen nur eins: Sehen, wie Ermin Sarics dünner Leib 25 Meter in die Tiefe stürzt. „Ich springe jeden Tag, fünfmal, zehnmal. Das ist meine Arbeit: Du zahlst, ich springe.“

Ringsum brät die Stadt in der Glut des Mittags. Stari Most, die Alte Brücke, schlägt einen hohen Bogen über das türkisgrüne eiskalte Wasser der Neretva. Die Brücke, ein Wunderwerk der osmanischen Baukunst, wurde 1566 errichtet. Rechts und links winden sich enge Gassen zwischen geduckten Steinhäusern. Es ist dieses Panorama, weswegen die Urlauber in die 110.000-Einwohner-Stadt strömen.

Aber abseits der aufwändig restaurierten Altstadt sind viele Läden leer und verrammelt; da und dort ragen ausgebombte Ruinen auf. 19 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs liegt die Wirtschaft am Boden; Bosnien und Herzegowina zählt zu den ärmsten Ländern Europas. Zwei von fünf Menschen sind arbeitslos; bei den Jugendlichen ist es sogar mehr als jeder zweite.

In der Altstadt ist es voll, laut und bunt wie in einem Vergnügungspark. Die Springer stürzen sich im Akkord in den Fluss. Was für die Urlauber nach Spaß und Übermut aussieht, ist ein Knochenjob. Sechs Männer in Mostar arbeiten auf der Stari Most, sie wechseln sich in zwei Gruppen einen Tag um den anderen ab, immer von morgens um neun bis abends um acht.

Das beste Gefühl der Welt

Edi Fink, 20 Jahre, blond und braungebrannt, hat gerade einen Sprung hinter sich. Er kommt tropfnass zurück auf die Brücke. Im Erdgeschoss des ehemaligen Wachturms liegt der „Divers’ Club“, eine Art Vereinsheim für die Springer. Über eine Stiege geht es hoch zu einem kleinen Café. Fink hockt sich an einen der Tische. Er stammt aus einer Familie, in der es seit Generationen prominente Brückenspringer gibt. Er war 14, als er seinen ersten Sprung wagte; sein Vater hat ihn trainiert. „Es war der größte Moment meines Lebens, das beste Gefühl auf der Welt.“

Der Kellner, ein schlaksiger junger Mann mit spitzem Kinn, hievt einen dicken Bildband von dem Regalbrett über der Tür: „Die Ikari von Mostar“ lautet der Titel; so werden die Springer genannt, nach Ikarus aus der griechischen Mythologie. Nino Nozice blättert hin und her; historische Aufnahmen sind zu sehen, Ansichten der Brücke, die Springer oben auf der Brüstung.

„Die Jungs hier sind immer gesprungen, auch während des Kriegs“, sagt Edi Fink. Der Kellner deutet auf ein Foto aus den 90ern. Wo die Brücke sein sollte, klafft eine Lücke. Während des Kriegs haben bosnisch-kroatische Milizionäre das Bauwerk mit Panzergranaten beschossen, bis es einbrach. In den Jahren danach sprangen die jungen Männer von einem Brett, das an der Klippe für sie montiert war.

Chiffre für den Zerfall

Nach dem Ende des Kriegs wurde die Brücke neu aufgebaut, finanziert mit internationalen Geldern. Seit zehn Jahren wird sie wieder benutzt. „Die Brücke ist die wichtigste Sache in Mostar“, sagt Nozice, denn sie zieht die Touristen an, und ohne die Touristen gäbe es keine Arbeit, nicht für ihn und auch nicht für die Springer. Die Stari Most ist symbolisch aufgeladen; sie galt seit je her als eine Verbindung zwischen Ost und West, Christentum und Islam. Dann wurde sie zerstört und damit zu einer Chiffre für den Zerfall Jugoslawiens. Der Wiederaufbau sollte auch ein Sinnbild für die Hoffnung auf Versöhnung sein.

Für Nozice und Fink ist sie vor allem eine Möglichkeit, Geld zu verdienen in einem Land, das ihnen sonst kaum Chancen bietet. Von seinem Café aus hat Nozice die Brücke im Blick; die Souvenirshops, die Restaurants an den Hängen. Armut und Hoffnungslosigkeit haben die Stadt verändert, sagt er: „Die Leute sind wie Geister. Wir leben gar nicht mehr richtig, wir existieren nur noch für den Tourismus.“

Unten stolziert Igor Kazic über die Brüstung der Stari Most, sein Kollege Ermin Saric macht mit der Mütze die Runde. Kazic dehnt seine langen Glieder und schließt die Augen. Saric hält den Touristen erneut die Mütze vor die Nase. Kazic wird erst springen, wenn 25 Euro zusammengekommen sind. Dann breitet er die Arme aus wie ein Messias. Saric schreit: „Applaus! Applaus für Igor, den Champion!“ Ein Schritt ins Nichts. Kazic fällt, den Rücken gespannt, die Arme schräg nach oben gereckt.

Am Abend wird es ruhiger auf der Stari Most. Kazic, 22 Jahre, hat sich im Divers’ Club niedergelassen. Er ist nahe der Brücke aufgewachsen, viermal hat er die Meisterschaft gewonnen, bei denen die Springer jedes Jahr antreten. Er hat den Turnieren schon als Kind zugeschaut und dachte: Eines Tages werde ich dabei sein. „Wenn du springst, glaubst du zu fliegen. Dann kommt das Adrenalin.“ Nun ist der Rausch für ihn Alltag geworden; 400-, 500-mal stürzt er sich jeden Sommer von der Stari Most, schätzt er.

Die Tradition der Springer ist fast so alt wie die Brücke selbst. Die Meisterschaft wurde laut den örtlichen Annalen in diesem Jahr zum 447. Mal organisiert. In den Anfangsjahren sprangen die Jungen, um den Mädchen ihren Mut zu beweisen, aber auch damals ging es schon um Geld. Kazic deutet auf auf das Café oben im Turm. „Da oben saßen die reichen Leute und haben Goldmünzen aus dem Fenster geworfen.“

Er stürzte auf die Felsen

Das Risiko ist immer dabei. Die Sonne heizt die Luft oft auf mehr als 40 Grad auf, das Wasser wird nicht wärmer als acht. Der Temperaturunterschied ist ein Schock für Herz und Kreislauf; der Aufprall schadet der Wirbelsäule. Vor einigen Jahren ist einer der Springer ausgerutscht, als er das Geld der Touristen einsammelte. Er stürzte auf die Felsen und brach sich einige Knochen. Herzinfarkte kommen vor, nicht bei den Profis, aber bei Touristen, die sich ohne Vorbereitung herabstürzen, oder bei Betrunkenen.

Die Springer trainieren ständig, damit ihr Körper die Belastungen aushält. „Ich hätte gern einen anderen Job“, sagt Kazic, zieht lange an seiner Zigarette. „Aber es ist schwer, einen zu finden. Ich könnte höchstens auf einer Baustelle arbeiten und 20 Euro am Tag verdienen.“ An guten Tagen auf der Brücke kommen rund 100 Euro für jeden der Springer zusammen.

Draußen schimmert die Brücke blass im Abendlicht; zwei Frauen balancieren auf Stilettos über den hohen Spitzbogen. Inzwischen gehen die jungen Mostarer wieder in die Bars auf der jeweils anderen Seite des Flusses. Der Krieg hat die Stadt gespalten zurückgelassen. Bis in die 90er Jahre war Mostar in etwa zu gleichen Teilen von Kroaten, Bosniaken und Serben bewohnt. Jetzt gibt es kaum noch Serben. Die Stadt ist geteilt in einen kroatisch-christlich dominierten Westen und einen bosniakisch-muslimischen Osten. Die Brücke verbindet streng genommen nicht die beiden Völker, sondern den muslimischen Osten und eine muslimische Altstadtenklave am Ufer gegenüber. Der christliche Teil beginnt etwas weiter im Westen, hinter dem Boulevard.

Entsprechend sind die meisten Springer Bosniaken. Es gibt aber auch ein paar Kroaten darunter. Bis heute sprechen die Menschen nicht gern über den Krieg und seine Folgen. Oben im Turmcafé zieht Edi Fink die Schultern nach oben; er sagt: „Ob Bosniak oder Kroate – das spielt auf der Brücke keine Rolle.“ Aber selbst inmitten des touristischen Getümmels zeichnen sich die Spuren des Konflikts ab; gleich neben dem Divers’ Club steht ein Stein mit der Inschrift: „Don’t forget 93“ – das Jahr, in dem die Brücke zerstört wurde. Auf der Treppe daneben hat Vanessa Delic ihren Stand aufgebaut; sie verkauft Kühlschrankmagneten in Form der Brücke und Kugelschreiber aus Patronenhülsen.

Ihr Mann Admir zählt mit Ende 30 zu den ältesten Springern. „Es ist sehr schlecht für die Gesundheit; der Druck auf die Knochen ist zu stark“, sagt sie. „Bis 45 können sie den Job machen, danach ist Schluss.“ Delic, mit blondiertem Zopf und pink lackierten Nägeln, späht in die Nachmittagshitze und raucht. „Wir überlegen nun, ein Apartment einzurichten und an Touristen zu vermieten.“

Fick dich, Barcelona!

Am nächsten Morgen schiebt sich Ermin Saric durch das Gedränge auf der Brücke. Dann hält er inne; als er vor 13 Jahren mit dem Springen anfing, gab es keine Brücke, nur die provisorische Plattform. Saric, 29 Jahre alt, hat klarblaue Augen, in seinem Mund fehlen ein paar Zähne, auf der Brust trägt er ein tätowiertes Abbild der Stari Most. Er wirft die Arme in die Luft und schreit: „Wozu gab es diesen Krieg? Für nichts! Die normalen Leute hatten nichts davon! Nur Elend und eine kaputte Wirtschaft.“

Die Brücke, sagt er, ist sein zweites Zuhause. Vor vier Jahren hat er hier seine Frau kennengelernt, eine Touristin aus Spanien. Nun lebt das Paar im Sommer in Mostar und im Winter in Barcelona. Im Oktober endet die Saison; dann ist in der Altstadt nicht mehr viel los. Von dem, was sie im Sommer verdient haben, kommen die Springer bis März über die Runden. Manche von ihnen suchen sich Jobs als Tagelöhner, sonst gibt es für sie nichts zu tun.

Saric flaniert in den Schatten des Wachturms. „Es gibt keine Wirtschaft, ein Riesenscheiß“, ruft er, „aber ich liebe diese Stadt, wenn ich vier Monate weg bin, halt ich’s nicht mehr aus. Dann sag ich: Fick dich, Barcelona! Ich muss nach Hause.“ Ringsum verdichtet sich der Strom der Touristen allmählich wieder; Saric muss an die Arbeit. Er verschwindet in der Menge und taucht oben auf der Brüstung wieder auf, den Blick zum Horizont gerichtet, den Abgrund im Rücken.

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