Mit dem Fahrrad in Marokko: Wüsten erfahren

Eine Reise durch den Süden Marokkos bedeutet eine Reise durch Gegensätze: Es geht durch unterschiedliche Klima-, Vegetations- und Zeitzonen.

Die Tour startet in Marrakesch. Bild: imago/Helge Sobik

Nichts. Unendliches Nichts. Stundenlang, kilometerweit. Vorne Nichts, hinten Nichts – nichts als ockerfarbene, karge Steinwüste. Erst in weiter Ferne, rechts und links der Asphaltpiste, lassen rot schimmernde Tafelberge ein Ende dieses Nichts ahnen – oder den Beginn eines neuen.

Horizonterweiterung im wahrsten Sinne des Wortes. Medizin für müde Augen. Herausforderung für Erlebnissucher. Spektakulär unspektakuläre Leere. Man muss das mögen. Alle zehn Kilometer eine Kamelfamilie. Hin und wieder ein einzelner Mensch. Hockend in gleißender Sonne am staubigen Straßenrand, eingehüllt in eine Dschellaba, wartend auf irgendwen oder was oder nichts.

Heinz, „unseren“ Mann aus der Schweiz mit dem trockenen Humor und dem Mut zu einfachen Fragen, macht das alles irgendwann fassungslos: „Was, verdammt, machen die da in der Wüste?“ Umgekehrt stellen sich diejenigen, die uns vom Straßenrand aus beobachten, mit Sicherheit dieselbe Frage. „Was, verdammt, machen die da in der Wüste?“

„Die da“, das sind wir: Eine zusammengewürfelte Gruppe von 16 Urlaubern. Neun Frauen und sieben Männer wie von einem anderen Stern, ausgestattet mit grellen Trikots und bunten Helmen, um sich den Süden Marokkos mit seinen Wüsten, Schluchten und Oasen mit dem Rad erfahrbar zu machen. Fahrrad und Marokko – das hat streng genommen nichts Exotisches.

Mutige und erfahrene Biker können Südmarokko individuell mit dem Rad erkunden. Internetseiten liefern Reiseerfahrungen und Streckenberichte.

Geführte Gruppen-Radreisen bietet Wikinger-Reisen an. Unter anderem: „Faszination Wüsten und Oasen“. 15 Tage, ab Oktober bis Ende November 2014, und ab März 2015. 1.948 Euro im DZ. www.wikinger-reisen.de

Das Stahlross mit Lenker und Pedalen gehört durchaus ins Straßenbild. Nur: Wer hier Rad fährt, tut es, weil er kein Auto hat, keinen Esel und auch kein Kamel. Und er trägt beim Radeln keinen Helm, sondern allenfalls Turban und Kopftuch. Er hat auch keine wetterfeste Packtasche auf dem Rad, sondern Bündel mit Viehfutter, Schulranzen oder Kisten mit Hühnern. Und schon gar nicht würde er freiwillig durch die Mittagshitze strampeln.

Wir aber haben dafür sogar bezahlt: Zwei Wochen per Rad durch Südmarokko, in Tagesetappen zwischen 30 und 80 Kilometern, komfortabel „embedded“ und über große Entfernungen getragen von zwei Minibussen. Eskortiert von einem „Besenwagen“, der jederzeit diejenigen aufpickt, die mit schlappen Waden oder Durchfallattacken „Ich kann nicht mehr“ stöhnen.

Über 400 Fahrrad- und 1.800 Buskilometer führt uns die Reise durchs Land – und es wird eine Reise voller Gegensätze, die uns jeden Tag neu durch andere Klima-, Vegetations- und Zeitzonen führt. Die Tour startet in Marrakesch, Marokkos südlicher Metropole, die außerhalb ihrer Altstadt, der verwinkelt-quirligen Medina, längst zur modernen Großstadt gewachsen ist – mit Luxusappartements, europäischen Modeketten und Parkraumbewirtschaftung.

Knapp eine Woche später werden wir am südlichsten Punkt unserer Reise, in Rissani, dem Tor zur Sahara, auf ein anderes Mobilitätssystem treffen: Im überdimensionierten Verkehrskreisel des Ortes drehen Eselskarren ihre Runden und der größte Parkplatz ist der für Mulis. Und während auf Marrakeschs Prachtboulevard Arztpraxen in großen Lettern ihre Dienste für künstliche Befruchtung anbieten, ducken sich auf dem steinigen Plateau des Mittleren Atlas die Frauen schamhaft in ihre fast fensterlosen Lehmhäuser zurück, wenn wir vorbeiradeln.

Das letzte Schnee

Hier, in 2.000 Metern Höhe scheint die Zeit stehen geblieben. Ein paar Schafe und ein paar Hühner sichern kaum das Überleben in dieser kargen, harten Landschaft. Im Winter sinken die Temperaturen unter die Minus-20-Grad-Marke. Wir radeln an den letzten Schneeresten vorbei, auf gut asphaltierter Straße durch bitterste Armut. In den wenigen Dörfern, die wir passieren, umringen uns die Schulkinder wie einen Wanderzirkus.

„Allez-Allez!“ – ihre Anfeuerungsrufe und ihre in die Höhe gereckten Daumen werden uns die ganze Radtour über begleiten. Kaum ein entgegenkommender Autofahrer, der uns nicht aufmunternd anblinkt. Mancherorts radeln wir durch ein Spalier wie das Spitzenfeld der Tour de France. „Bonjour, Bonjour“ reckt uns die Dorfjugend die Hände entgegen zum Abklatschen im Vorbeifahren. Einige machen sich einen Spaß daraus, uns dabei etwas Klebriges in die Hand zu drücken.

Und einmal gibt es auch das: Inmitten der Armut des Atlasgebirges versperren kleine Jungs mit ausgebreiteten Armen und lauten „Stylo, stylo!“-Rufen die Straße. Wer ihrer Forderung nach Kugelschreibern nicht nachkommt, muss sich mit kräftigen Pedaltritten vor Kieselsteinwürfen schützen.

Manchmal ist es gut, in Sichtweite des Vordermanns oder der Vorderfrau zu radeln. Das ist nicht immer einfach. Denn schon bald zieht sich unsere Radlergruppe – zur einen Hälfte immerhin um die 60 und drüber – wie Kaugummi auseinander: im Spitzenfeld wird der drahtige Winnie aus Franken das imaginäre gelbe Trikot nie mehr abgeben, gefolgt von Hermann, der tief gebeugt über den Lenker gegen Wind und Steigungen anstrampelt.

„Queen of the road“

Im Mittelfeld fährt Irmi im feschen Radlerdress, weiter hinten sind Inge und Helga, die sich mit ihren 63 Jahren bravourös schlagen. Und irgendwo dazwischen wuseln unsere beiden „Welpen“, die 17-jährige Lea und ihr drei Jahre älterer Bruder Lovis, die auf dieser Tour das vielleicht letzte Mal Familienurlaub mit ihren Eltern machen.

„Queen of the road“ aber ist die 59-jährige Maria, die schwergängig aber beständig in die Pedale tritt und am Zielpunkt immer noch weiterfahren möchte – selbst als uns am fünften Tag ein veritabler Wüstensturm von der Piste fegt. Schon bei der Fahrt durch die malerische Schlucht des Flüsschens Ziz peitscht uns der Wind mit Stärke sechs bis sieben entgegen. Die ersten flüchten in den Begleitbus, die zweiten haut es wenig später vom Rad, die dritten halten durch, bis sich der Himmel jäh verdunkelt und die nahe Sahara uns gelben Staub entgegenwirbelt, der sich zwischen Augenlider und Zähne frisst.

Am nächsten Tag zeigt sich die Wüste mit rosig-weichem Sonnenaufgang wieder von ihrer prächtigsten Seite. Mit dem allmorgendlichen „Yallah!“ – Auf geht’s! startet unsere Gruppe auf die Piste. Nur selten hört man in diesen zwei Wochen ein „Hab keinen Bock mehr“ oder „Warum tun wir uns das nur an?“. Eher vernimmt man leises Seufzen „Ist das schön hier“ – dann etwa, wenn wir durch bizarre Gesteinsformationen und grandiose Canyons radeln. Oder wenn sich in brütender Hitze rechterhand der Wüste die schneebepuderten 4.000er-Gipfel des Hohen Atlas ins Blickfeld schieben wie eine großartige Theaterkulisse.

Himmlische Oasen

Geseufzt aber wird vor allem, wenn aus steiniger, fast menschenleerer Weite plötzlich ein quietschgrüner Fleck auftaucht, der beim Heranradeln zu einer Oase wird, die sich kilometerlang am Fluss entlangschlängelt, mit braunen Lehmhäusern, die wie Schwalbennester am Fels kleben. Saftig-grüne Rechtecke mit jungem Getreide, mit dunkelrotem Mohn, üppigem Gemüse, Dattelpalmen und duftenden Kräutern, mühsam per Hand beackert, wecken dann plötzlich Urfantasien von paradiesischen Landschaften.

Wer hier langradelt, gerät in einen Strudel von Eindrücken und Gerüchen. Duftschwaden von Feigen, Orangen und natürlich von grüner Minze, dem Grundstoff für Marokkos zuckrig-heißes Nationalgetränk, ziehen in die Nase.

Sie mischen sich mit dem Geruchscocktail von Marktständen, Asphalt, überfahrenen Hunden, duftenden Fleischspießen und brennendem Plastikmüll, der – wo immer wir uns Menschenansiedlungen nähern – die Landschaft mit hellblauen oder weißen Flecken übersät. Einfach anhalten können, gucken, riechen, schmecken, Bilder tanken – auch in Marokko erweist sich die langsame Fortbewegungsart ohne Motor und Blechdach als Luxus.

Unfallfrei und nur eine Reifenpanne

Eine einzige Reifenpanne, kein Unfall, kein Sturz – keine ganz selbstverständliche Bilanz am Ende unserer Tour angesichts kilometerlanger rasanter Abfahrten und heimtückischer Schlaglöcher. Nach zwei Wochen voll widersprüchlicher Eindrücke und gestrammter Waden ist unsere Gruppe sich einig: Sofern man einen Kleinbus im Gepäck hat für lange, öde Strecken, ist das Rad ziemlich perfekt, um Südmarokko zu erfahren.

„Anders hätten wir nie so viel gesehen“, schwärmt Petra, die weitgereiste Bankfrau. „Wir waren“, meint Hermann der Vielradler, „auf diese Weise einfach dicht an den Menschen dran.“ Dicht dran – das schon, aber nahe gekommen sind wir dem Land und seinen Menschen auch mit Tempo 20 nicht wirklich. Um mehr als nur Impressionen aufzunehmen, hätten wir vielleicht umsatteln müssen – auf Wanderschuhe oder auf Kamele.

Aber weder das eine noch das andere möchte man wirklich. Und so nehmen wir es als bestätigendes Omen, dass wir auf der Rückfahrt zum Flughafen ein in Marokko noch rares Verkehrsschild entdecken: Ein weißes Fahrrad auf blauem Grund.

Diese Recherchereise wurde unterstützt von Winkinger Reisen.

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