Flucht aus der DDR: Die Briefmutter

Richard P. war in der ersten Klasse, als seine Mutter ihn zu Hause einschloss und in den Westen ging. Wie ging es dann weiter?

Seinen Teddybär von damals hat Richard P. aufgehoben. Bild: Stephan Moll

Sie stand im Türrahmen, mit meinem kleinen Bruder auf dem Arm und sagte: „Ich muss noch mal weg.“ Sie hatte kurze blonde Haare und trug Hosen. Sie winkte kurz, zog die Tür von außen ran und schloss ab. Das ist das letzte Bild, das ich von meiner Mutter habe, bevor sie in den Westen ging – und mich zurückließ.

Es muss Winter gewesen sein, 1971, mein Bruder war noch ein Baby und dick eingemummelt. Ich hatte keine Ahnung, was los war, ich ahnte nicht mal etwas. Ich war sieben Jahre alt, in der 1. Klasse und fand es lustig, mal einen Abend in unserer Wohnung in Ostberlin allein zu sein. Das nutzte ich aus, ich spielte länger, als ich gedurft hätte. Bis ich müde ins Bett fiel. Am nächsten Morgen war ich immer noch allein und erinnerte mich an den Satz meiner Mutter: „Wenn du aufwachst und ich bin nicht da, rufst du die Oma an.“

Meine Großeltern wohnten in einem Dorf am Berliner Stadtrand, meine Oma war rasch da, packte ein paar Sachen für mich ein und ging mit mir zur Polizei. Sie meldete meine Mutter als vermisst, obwohl sie von Anfang an in den Fluchtplan meiner Mutter eingeweiht war, wie sich später herausstellte. Die Stasi war auch schnell zur Stelle und fragte mich aus. Ich habe lange nicht verstanden, was passiert war, niemand hat mir etwas erzählt oder erklärt.

Als ich begriff, dass meine Mutter in den Westen abgehauen war, war ich bestimmt neun oder zehn Jahre alt. Aber ich war nicht schockiert oder überrascht. Wie die meisten Kinder ging ich selbstverständlich davon aus, dass meine Mutter bald wieder da ist.

Vor 25 Jahren fiel die Mauer, alsbald verschwand auch die DDR. Spurlos? taz-Reporter erkunden, was geblieben ist – in den Biografien der Menschen, in Tagebüchern von damals und in Potsdam, einer bis heute geteilten Stadt. taz.am wochenende vom 8./9. November 2014. Außerdem: Hedy Lamarr war der Protoyp der unterkühlten Hollywoodschauspielerin. Dass wir ohne sie nicht mobil telefonieren könnten, weiß kaum jemand. Und: Pulitzer-Preisträger David Maraniss über Barack Obama. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Meine Eltern hatten sich Jahre zuvor getrennt, ich war so klein, dass ich mich an ein Familienleben mit Vater, Mutter, Kind nicht mehr erinnere. Mein Vater hatte unterdessen eine neue Familie. Und meine Mutter stellte mir irgendwann „Onkel Herbert“ vor. Das war ihr neuer Freund, er kam selten zu uns, aber regelmäßig. Dass er aus Westberlin war, wusste ich damals nicht. Vermutlich hätte ich mit dieser Information auch nicht viel anfangen können.

„Deine Mutter ist eine böse Frau“

Als meine Mutter von ihm schwanger war, mussten sie wohl die Idee gehabt haben, Mutter und Kind in den Westen zu schleusen. Jedenfalls hat „Onkel Herbert“ alles organisiert: Der Kofferraum eines Autos wurde so umgebaut, dass sich meine Mutter und das Baby darin verstecken konnten. Meine Mutter war Krankenschwester und hat meinem Halbbruder ein starkes Schlafmittel gegeben. Alles hat reibungslos geklappt.

Es hätte aber auch schiefgehen können. Was dann passiert wäre, darüber möchte ich auch heute nicht nachdenken. Eine Mutter zu haben, die aus „politischen Gründen“ im Knast sitzt, das war tausendmal schlimmer, als keine Mutter zu haben. Oder eine, die nur als Phantom existiert.

Schnell war klar, dass meine Mutter das Land illegal verlassen hatte. In unserem Wohnzimmerschrank lag eine Vollmacht, in der sie verfügt hatte, dass ich zu meiner Oma kommen soll. Drei oder vier Monate war ich bei ihr, dann entschieden die DDR-Behörden, dass ich zu meinem Vater und seiner neuen Frau kommen soll. Das war schlimm für mich, denn fortan hörte ich Sätze wie: „Deine Mutter ist eine böse Frau.“ „Eine Mutter, die ihr Kind verlässt, ist keine richtige Mutter.“ „Und dann ist sie auch noch in den Westen gegangen …“

Ich war vollkommen zerrissen: Ich habe meine Mutter sehr geliebt, dass sie plötzlich richtig weg war, war schwer genug. Und nun auch noch zu hören, dass sie in jeder Hinsicht unzureichend war, das verstand ich nicht. Andererseits liebte ich auch meinen Vater. Nach der Trennung meiner Eltern war ich jedes zweite Wochenende bei ihm, in der Zwischenzeit habe ich ihn vermisst. Und nun sagte er solche Sachen über meine Mutter!

Die Mutter der „bösen Frau“

Irgendwann verboten mir mein Vater und seine neue Frau, meine Oma zu besuchen. Schließlich war sie die Mutter der „bösen Frau“. Das hat mich umgehauen. Meine Oma war damals die liebste und wärmste Person für mich, sie war jederzeit für mich da. Irgendwann war sie wichtiger als meine Mutter. Sie füllte die Lücke aus, die meine Mutter durch ihren Weggang gerissen hatte.

Meine Oma wohnte um die Ecke, mit dem Fahrrad war ich in drei Minuten bei ihr. Sie zu besuchen, das wollte ich mir auf keinen Fall nehmen lassen. Ich ging heimlich zu ihr.

Dort las ich die Briefe, die meine Mutter an mich geschrieben, aber an meine Oma geschickt hatte. Meine Mutter wusste, dass ich die Briefe nie bekommen hätte, hätte sie sie an meinen Vater adressiert. Manche Briefe füllten nicht mal eine Seite, viele waren lapidar. Meine Mutter schrieb, dass meine beiden Halbbrüder – sie hatte bald einen weiteren Sohn bekommen – manchmal „ungezogen“ seien. Dass sie mir ein T-Shirt mit meinem Namen schicken wollte, aber der Laden, wo sie es gekauft hat, nicht alle Buchstaben parat hatte. Dass sie sich freue, was für ein hübscher, großer Junge ich geworden sei. Meine Oma hatte ihr mal ein Bild von mir geschickt.

Und sie schrieb Sätze wie: „Wir haben dich alle sehr lieb.“ „Ich muss immer an dich denken.“ „Du wirst bald hier sein.“ Merkwürdigerweise berührten mich diese „Liebesbezeugungen“ nicht sonderlich. Sie ließen mich zwar nicht kalt, und ich glaubte jedes ihrer Worte. Aber die Aussage, dass wir bald wieder vereint sein werden, wurde mit jedem Jahr, das weiter ins Land zog, relativiert. Irgendwann schrieb sie nur noch: „Du musst Geduld haben.“ Und: „Es wird noch eine Weile dauern, bis wir wieder zusammen sind.“

Der geheime Ort

Ich begann meine Mutter nicht mehr zu vermissen, das Bild, das ich von ihr hatte, verblasste immer stärker. Wenn wir ab und zu telefonierten, war es, als sprach ich mit einer fernen Verwandten. Hin und wieder schickte sie Schokolade, Spielzeug, Jeans.

Die Geschenke hatten mir mein Vater und seine Frau verboten. Meine Oma passte mich manchmal an der Schule ab, um mir die Westsüßigkeiten zuzustecken. Einmal kam sie mit einer Tüte Schokonüsse, ein ganzes Kilo. Weil ich die nicht mit nach Hause nehmen konnte, haben meine Freunde und ich in einer Hofpause die gesamte Tüte in uns hineingestopft. Danach war mir schlecht wie schon lange nicht mehr. Im Wald hatte ich einen geheimen Ort, ein Astloch, wo ich manchmal Reste der Süßigkeiten versteckte.

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich verstand, dass ich nie nachgeholt werde. 20.000 DM hatte „Onkel Herbert“ für die Flucht bezahlt. So viel Geld konnte er nicht noch mal aufbringen. Ich war ja auch nicht sein leibliches Kind, der Drang, für mich Berge zu versetzen, wird sich in Grenzen gehalten haben. Warum meine Mutter keinen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt hat, weiß ich nicht. Darüber hat sie nie gesprochen.

Als ich 18 war, 1982 war das, haben wir uns das erste Mal wieder gesehen. Meine Mutter hatte ein verlängertes Wochenende in Prag organisiert. Ich war aufgeregt und verwirrt. Wie wird sie aussehen? Werden wir uns nah sein? Komme ich mit meinen beiden Halbbrüdern klar?

Als ich meine Mutter in der Hotellobby sah, nach über zehn Jahren das erste Mal, durchströmte mich ein tiefes Glücksgefühl – so als hätte ich sie nach Kriegswirren wiedergefunden. Wir verlebten vier intensive, fröhliche, aufregende Tage. So hätte es noch lange bleiben können. Der Abschied war schwer. Es gibt ein Foto, auf dem ich neben dem weißen Mercedes meiner Mutter stehe, rauche und heule wie ein Schlosshund.

Es ging mir gut im Osten

In jener Zeit begann ich darüber nachzudenken, ob ich auch in den Westen wollte. Ich versuchte über meine Mutter rauszukriegen, wie das Land funktionierte, ob es was für mich wäre. Sie sagte: „So etwas sollte man nicht aus einer Laune heraus entscheiden.“

Ich ging nicht. Es ging mir gut im Osten. Ich hatte einen super Job als Techniker in einem Theater, ich hatte eine Frau und viele Freunde, ich war Schlagzeuger in einer Band. Ich hatte damals nie den Gedanken, dass die DDR Familien zerstörte – obwohl das ja so war. Mittlerweile durfte meine Mutter sogar ganz normal rüber, sie kam mehrmals im Jahr, wir trafen uns bei meiner Oma. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich hatte meine Mutter wieder und der Westen kam zu mir. Ich war jetzt der mit den ganz engen Westkontakten, ich war etwas Besonderes. Ich trug Klamotten, die andere nicht hatten, ich hatte Whiskey zu Hause und die neuesten Platten.

Trotzdem wollte ich auch mal meine Mutter in Westberlin besuchen. 1988 stellte ich einen Antrag, aber der wurde abgelehnt. Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass ich fahren durfte. Vielleicht wäre ich damals nicht mehr zurückgekommen, und vielleicht hatten die DDR-Behörden das geahnt.

In jener Zeit haben meine Mutter und ich nicht über „unsere Geschichte“ gesprochen. Wir haben uns beide davor gefürchtet, das war tabu, eine No-go-Area. Heute würde man sagen, die Zeit war noch nicht reif. Erst als die Mauer gefallen war und wir uns so oft sehen konnten, wie wir wollten, haben wir uns daran gewagt. Das war hart, wir haben beide bitterlich geweint.

Ich habe meiner Mutter verziehen. Ich bin froh, dass ich das geschafft habe, sonst könnten wir heute keinen unbeschwerten Kontakt haben. In einem ihrer letzten Briefe an mich als Kind schrieb sie, dass sie mich mitgenommen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass das so lange dauert.

Ich glaube ihr das. Ich habe keine andere Wahl.

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