die taz vor fünfzehn jahren über jüdische immigration aus der sowjetunion
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So wie das Protokoll der Wannsee-Konferenz in der Sprache deutscher Bürokraten gehalten ist, so ist das Fernschreiben des Bonner Innenstaatssekretärs Hans Neusel der Sprache ebendieser Konferenz verhaftet: Da finden „Regelungen uneingeschränkt Anwendung“, da geht es um die „Einschaltung des Zentralrats der Juden“, „vorbereitende Problemerörterung“ und um „speziell zu lösende Detailfragen“. Konkrete Menschen werden zu Objekten von Verwaltungsrichtlinien und Erlassen gemacht. Nicht mehr und nicht weniger. Inhaltlich geht es der Innenministerkonferenz um das pure Gegenteil jener Staatssekretärskonferenz vom Januar 1942. Juden sollen nicht deportiert, sondern aufgenommen werden. Auch wenn sie es noch so verquer ausdrücken, so ist dennoch der Anspruch, den das Gespann Schäuble/Neusel formuliert, „die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft zu stärken“, ernst gemeint.

Selbstverständlich muß die Innenministerkonferenz, müssen notfalls die Parlamente, die von Neusel propagierten Auswahlkriterien (deutsch sprechen, jung, beruflich überdurchschnittlich qualifiziert) zurückweisen. Der gewünschte „Brückenschlag zwischen Deutschen und Juden“ – auch das meinen Schäuble und Neusel ernst – ist zum Scheitern verurteilt, wenn er auf Selektion beruht. Schließlich ist die „Einschaltung des Zentralrats der Juden in Deutschland“ eher fraglich. Der Zentralrat, die oft schwachen jüdischen Gemeinden sind überfordert, sie würden – wie einst die Judenräte – funktionalisiert, um staatliche Vorgaben und Rahmenrichtlinien gegenüber ihren eigen Brüdern und Schwestern abzufedern. Deutsche haben Millionen Juden ausgegrenzt, vertrieben und ermordet – wir alle, nicht einzelne jüdische Gemeinden, tragen die Verantwortung dafür, daß sich jüdische Familien aus der Sowjetunion hier niederlassen, frei und gleichberechtigt leben können. Götz Aly, 14. 12. 1990