Gender und Pop: Die Welt klingt queer

Es gab noch mehr als Conchita Wurst: Die wichtigsten Acts des vergangenen Jahres sind weiblich sozialisiert – meist mit transnationalen Biografien.

Bildausschnitt aus dem Video „Misxgyny Drxp Dead“ von planningtorock. Bild: Promo

BERLIN taz | Klar, 2014 war das Jahr der Conchita Wurst, aber es gab auch noch: Neneh Cherry, Inga Copeland, FKA Twigs, Maria Minerva, Fatima Al Qadiri und Planningtorock. Was haben diese Figuren gemeinsam? Sie belegen Spitzenplätze in den Jahres-Polls 2014, auch in der taz. Sie haben dasselbe biologische Geschlecht. Und sie verkörpern, bei allen Unterschieden, ein zeitgemäßes Pop-Autorinnen-Modell.

Das innen bei Autorinnen ist übrigens kein generisches Femininum, das von der Genderpolizei diktiert wurde, nein, es handelt sich durchweg um Frauen. Ihr Leben und Arbeiten ist von drei Parametern geprägt: Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit. Parameter, die das Dasein der umherschweifenden Kulturproduzentin im 21. Jahrhundert bestimmen, die DNA des globalisierten Subjekts.

Standardbiografien sind von gestern. Wie die Lebensläufe heute aussehen? Thaliah Barnett kommt 1988 in Gloucestershire zur Welt, englisch-spanische Mutter, Vater Jamaikaner, sie nennt sich Twigs (Zweige), später FKA Twigs, das FKA steht für formerly known as. Ihr gefeiertes Debütalbum produziert sie mit dem biologischen Mann, der sich Arca nennt. Als Alejandro Ghersi in Caracas geboren, studiert Arca in New York Musik und lebt in London. „Arca hat die queerste Platte der letzten Monate gemacht, ohne dass es auf der Platte einen Hinweis darauf gäbe“, sagte der schwule Sänger Owen Pallett kürzlich in der taz. Queere Musik geht auch ohne Worte.

Janine Rostron alias Planningtorock kommt im englischen Bolton zur Welt. 2002 geht sie nach Berlin, wo Deutsch nur eine Sprache ist unter vielen. 2013 ändert Planningtorock ihren Taufnamen von Janine zu Jam, das ist geschlechtsneutral. Planningtorock performt mit Lichtinstallationen und Masken. Maskiert wird auch die Stimme, mit Autotune, bis sie übergeschlechtlich klingt. „Playing around with gender“ nennt er/sie/es das.

Interdisziplinär und humorvoll

„All Love’s Legal“ ist der sprechende Titel des Planningtorock-Albums, die Songs heißen: „Misogyny Drop Dead“, „Patriarchy Over & Out“ und, der Hit: „Let’s Talk About Gender Baby“. Ja, Plannigtorock platziert das G-Wort tatsächlich direkt neben dem B-Wort. Baby? Hatte das nicht die linke Sprachpolizei verboten? Das würden wohl zumindest die behaupten, die gegen den angeblichen Genderwahn Sturm laufen.

Alina Astrova, in Russland geboren, wächst in Estland auf und landet als Inga Copeland beim Londoner Hyperdub-Label. 2014 veröffentlicht sie im Eigenvertrieb das vielgelobte Album „Because I’m worth it“, inzwischen heißt sie nur noch Copeland, ohne Inga. Maria Minerva erblickt 1988 in Tallinn als Maria Juur das Licht der Welt, sie studiert Kunstgeschichte an der Estonian Academy Of Arts, macht ein Praktikum beim Musikmagazin The Wire in London und lebt nach den Stationen Lissabon und New York in Los Angeles.

„Asiatisch“ ist der Titel des Debüts von Fatima Al Qadiri, Album des Jahres nicht nur bei Spex. Al Qadiri wird im Senegal geboren, wächst in Kuwait auf und lebt heute als interdisziplinäre Künstlerin in Brooklyn. Sie ist Teil des Kollektivs Future Brown, von dem wir sehr bald noch sehr viel hören werden, auch weil sie ihren futuristischen R&B mit lustigen Konzepten aufladen: Als Exercise in Capitalist Surrealism möchten Future Brown ihr aktuelles Video „Vernáculo“ verstanden wissen, eine Travestie auf die Werbeästhetik von Schönheits- und Körperpflegeprodukten.

Neneh Cherry feiert im Jahr ihres 50. Geburtstags ein großes Comeback und ist so was wie die Mutter der hier verhandelten Musikerinnen. In Stockholm als Tochter einer schwedischen Malerin geboren, Vater Musiker aus Sierra Leone, Stiefvater Jazz-Legende Don Cherry, als Teenager in der Bristoler Punk-Szene aktiv, der Rest ist Geschichte.

Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit

Zurück zum Ausgangspunkt: Wechselvolle Biografien. Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit. Dass weltreisende Künstlerinnen polyglott sein sollten, versteht sich von selbst. Komplizierter wird es bei der Atemporalität. Mit Ausnahme von Neneh Cherry sind die genannten (biologischen) Frauen Kinder des digitalen Zeitalters, ihr Zugriff auf die Archive ist ein atemporaler; sie verfügen selbstverständlich jederzeit über musikalische Quellen aus: jeder Zeit. Nicht nur musikalische.

„Cabaret Cixous“ ist der Titel des Debütalbums von Maria Minerva. Cixous steht für die französische Autorin Hélène Cixous. „Weiblichkeit in der Schrift“ und andere Bücher der poststrukturalistisch orientierten Feministin erscheinen in den späten Siebzigern. Das Cabaret im Albumtitel steht für Cabaret Voltaire. Die Electro-Industrial-Band aus Sheffield benannte sich 1973 ihrerseits nach dem Züricher Cabaret Voltaire.

Reichlich Fährten für das Debüt einer 23-Jährigen Maria Minerva beruft sich auf Quellen, die ein Jahrzehnt vor ihrer Geburt auf dem Höhepunkt ihrer Strahlkraft waren – in einem Westen, der von ihrer Heimat Estland durch einen Eisernen Vorhang getrennt war. Auf der Zeitachse ist das ungefähr so, als hätten die Beatles 1966 die Namen von, sagen wir, der Bluessängerin Bessie Smith, dem Jazzer Benny Goodman und der Psychoanalytikerin Melanie Klein gedroppt.

Fluktuierende Tonträger

Atemporalität bezeichnet das Herausfallen aus dem linearen Zeitkontinuum und dem Fortschrittsparadigma der Popmusik im Zeitalter ihrer digitalen Verfügbarkeit. Digitalisierung hebt auch die geografische Weltordnung des Pop aus den Angeln. Die Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie sortieren sich neu; wenn Tonträger binnen Sekunden um den Globus migrieren, müssen ihre Produzentinnen nicht mitmigrieren.

So kommt es, dass so unterschiedliche Künstlerinnen wie Maria Minerva, (Inga) Copeland und Fatima Al Qadiri – Björk wäre als weitere Pionierin dieser Entwicklung zu nennen – aus dem Außen der Pop-Weltordnung kommend (Estland, Russland, Senegal/Kuwait, Island) plötzlich innerhalb dieser Weltordnung tonangebende Positionen einnehmen, dass sie also ihren Standortnachteil in einen Vorteil konvertieren.

Und warum bloß Frauen? Welche Rolle spielt das Geschlecht? Vermutlich würden sich die genannten Personen gegen diese Art der freundlichen Vereinnahmung als Female Class of 2014 verwahren: zu biografistisch, zu biologistisch, zu essenzialistisch. Vielleicht ist es ja Zufall, dass die aufregendste Musik dieser Zeit häufig von solchen hybriden Figuren kommt, deren Leben geprägt ist von Umdeutungen, Umbenennungen, Umzügen, Abweichungen, von Mehrdeutigkeiten, auch in Geschlechterfragen.

Von einer künstlerischen Queerness gewissermaßen, die sich speist aus der grundlegenden Distanz und Skepsis gegenüber den gottgegebenen Dogmen der heterosexuellen Ordnung. Kein Zufall ist allerdings der aggressive Normalismus, mit dem sich derzeit die Pegidas & Hogesas & Martenfleischposchtusseks dieser Welt gegen Queer Folks und ihren funky Genderwahn in Stellung bringen. Der massive maskulinistische Backlash gegen die drohende „Dämmermännerung“ (Barbara Kirchner) beweist: Es geht um die Wurst. Danke Conchita!

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