Die Apokalypse ist kein Spektakel

JOHANNES-OFFENBARUNG Mark Andres Musiktheater-Passion „… 22, 13 …“ aus dem Jahr 2004 wurde am Radialsystem neu in Szene gesetzt

Andre konzentriert sich über 90 Minuten hinweg auf einen einzigen Klang

Mark Andre meint es ernst. Sehr ernst sogar. Die Apokalypse ist kein Spektakel und kein rasendes Abenteuer, sondern jener Augenblick, der der Ewigkeit und dem Nichts vorausgeht – niederschmetternd und feierlich zugleich. Wo andere Komponisten den Weltuntergang als dramatische Höllenfahrt geschildert haben, konzentriert Andre sich auf einen einzigen Klang, den er über 90 Minuten hinweg entfaltet, ausdifferenziert und verfeinert. Geradezu bodenlos kommt diese Musik daher, tief und ursprünglich. Auf dem Podium sitzen Bassinstrumente: Celli und Kontrabässe, Fagotte, Bassposaunen, Bassklarinetten und große Trommeln, während die Klangregisseure des Freiburger Experimentalstudios die Klänge live verräumlichen und durch die Lautsprecher geistern lassen, um ihnen etwas Ursprungs- und Ortloses zu verleihen. Der Hörer taucht immer tiefer in diesen akustischen Abgrund ein. Zeit und Raum werden zu Fluchtpunkten der vollkommenen Leere.

Die Musiktheater-Passion „… 22, 13 …“ entstand 2004 im Auftrag der Münchener Biennale. Der französische Komponist Mark Andre, der 1964 in Paris geboren wurde und heute im Berliner Friedrichshain lebt, hat Textstellen aus der Johannes-Offenbarung ausgewählt und im weitesten Sinne des Wortes: vertont. Im Mittelpunkt des Stücks steht der 13. Vers im 22. und letzten Kapitel: „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ Man versteht die Texte eigentlich nicht, weil die sieben im Ensemble verteilten Sängerinnen sie nur andeuten, die Konsonanten ins Mikro flüstern und die Vokale anhauchen. Aber Sinn und Bedeutung der teils düsteren, teils eschatologisch verrätselten Passagen geht auch so in dieser statischen, erratisch irrenden Musik auf. Andre erzählt nicht. Er schildert bestenfalls und stellt aus.

In Berlin wurde „… 22, 13 …“ nun am Wochenende im Radialsystem wiederaufgeführt, unter der Regie von Cornelia Hager. Hager hat das Stück mit sieben Tänzern besetzt, die die Musik blassgepudert und in wundgetränkten Kleidern begleiteten. Bisweilen gelang den akrobatisch auf einem verschachtelten und halsbrecherischen Bretterrundlauf wandelnden Tänzern auch wunderschön verschlungene Figuren.

Und wer wusste, dass Andres Partitur auch etwas mit Garri Kasparows Schachpartien gegen den Computer Deep Blue zu tun hat, mit dem schicksalhaften Spiel Mensch gegen Maschine also, der konnte vielleicht auch einmal eine Rochade aus den bisweilen mechanischen Bewegungsabläufen herauslesen. Insgesamt aber enthielt die Choreografie etwas, was die Musik vollkommen verweigerte, nämlich viel zu viele klare Linien. Und so stand die Inszenierung ein wenig quer zu Andres abgründigem Klang.

Wer Andres jüngere Partituren kennt, der weiß, dass er sich seit diesem Stück nochmals weiterentwickelt hat und dass insbesondere seine Orchestertechnik noch sehr viel filigraner und vielschichtiger geworden ist. Auch wenn man es mit ähnlich opulenten Produktionen aus dem Freiburger Experimentalstudio vergleicht, mit Luigi Nonos „Prometeo“ von 1984 zum Beispiel, dann bleibt dieses Stück in seiner Unbeweglichkeit doch dahinter zurück. Und trotzdem war es wichtig, „… 22, 13 …“ zu hören. Nicht nur weil der feierliche Schrecken der Apokalypse so gut zur Januarfinsternis passt, wo er einem die Magengrube wärmend erleuchtete, sondern auch weil man mit Mark Andre einen Blick werfen durfte in die Untiefen und in das Bodenlose der Musik. BJÖRN GOTTSTEIN