nebensachen aus paris
: Sonntags in der Métro oder wie schnell eine Faust auf der Wange landen kann

An Sonntagnachmittagen wird die Métro-Linie Nummer 11 anders. Wo sonst Lärm aus Kopfhörern dröhnt, Ellbogen knuffen und Menschen durch einander durch gucken, herrscht freundliche Ruhe. Sogar Lächeln ist im Waggon. Ich habe sieben unterirdische Stationen Zeit, um ein Interview vorzubereiten. Setze mich. Und zücke Block und Stift.

Die Jungen steigen eine Station später zu. Einer setzt sich neben mich. Zwei gegenüber. Drei weitere lassen sich auf der Viererbank jenseits des Gangs nieder. Ich höre den Stimmbruch in ihren Stimmen. Ich spüre ihre Lust, zu streiten. Auf mich beziehe ich die nicht. Als die Métro anfährt, stemmt der Kleine neben mir seine Beine so weit auseinander, dass ich fast von der Bank rutsche. Sekundenbruchteile später landen Speichelspritzer auf meinem Block. Sie stammen von gegenüber. Soll ich den Platz wechseln? Besser sage ich ein paar vernünftige Worte. Schließlich bin ich die Erwachsene.

Die Spucke landet in meinem Gesicht, bevor ich das Wort „Respekt“ ausgesprochen habe. Ich springe auf. Ich sehe, wie meine rechte Hand eine Ohrfeige versetzt. Und ich spüre, wie sofort danach ein fremder Schlag auf meine Wange prallt. Es ist meine erste Ohrfeige seit Jahrzehnten. Sie ist lauter als die Fahrgeräusche der Métro im Tunnel. Im Waggon lächelt niemand mehr. Ein Jugendlicher ruft: „Lasst die Frau in Ruhe!“ Die Jungen schreien zurück: „Fresse!“ Die erwachsenen Männer im Waggon konzentrieren sich auf ihre Schuhspitzen. Eine Frau zieht die Schultern hoch und die Mundwinkel herunter.

Ich wechsele jetzt doch den Platz. Der Block und der Stift sind meine Rettungsringe. Mein Hals ist ein dicker Knoten. Kein Ton kommt heraus. Eine Station später steigen die Jungen aus. Im Vorbeigehen beugt sich einer zu mir herunter: „Du hast eine hübsche rote Backe.“ Als das Brennen auf der Haut vorbei ist, sagt ein Freund: „Du hättest um Hilfe rufen müssen, statt selber zu schlagen.“ Ein anderer: „Du hättest den Männern im Waggon sagen sollen, dass sie Feiglinge sind.“ Ein dritter: „Warum hast du nicht die Notbremse gezogen?“ Das Glühen in meinem Inneren wird stärker. Ich habe total versagt.

Eine paar Tage später schlendere ich spätabends mit einer Kollegin die Rue de Ménilmontant hinauf. Eine zierliche Pariserin. Vermutlich trägt sie Kleidergröße 36. Wir plaudern. Mitten im Satz schmeißt sie ihre Tasche aufs Trottoir und rast los. Ein paar Meter vor uns tritt ein kräftiger Mann auf einen anderen ein. Die Stimme meiner Kollegin schallt durch die Nacht: „Hey! Lass den Typen in Ruhe.“ Ihre Hände drängen zwei Männer auseinander. Das Fluchen des Angreifers verstummt. Er richtet sich auf. Nuschelt kaum hörbar: „Pardon, Madame.“ Und huscht davon. Der andere zupft Jacke und Hose zurecht und sagt: „Merci, Madame.“ Meine Kollegin wirft ihr langes Haar über die Schultern und zieht mich am Arm aus der Erstarrung. „Du würdest doch auch nicht einfach zugucken, wenn jemand vor dir zusammengeschlagen wird“, sagt sie. Für mich hat sie an dem Abend die Ehre der Franzosen gerettet.

Zwei Wochen später beginnt die große Keilerei in der Banlieue. Wenn es mehr Leute wie meine Kollegin gäbe, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. DOROTHEA HAHN