Geschäftsgrundlage des dissidenten Realismus

GEGENBILDER Die Erfurter Kunsthalle zeigt die andere Leipziger Schule: Dokufotografie, die dem DDR-Alltag poetische Momente abrang

Sie zeigen die Achtzigerjahre, das Jahrzehnt, in dem sich Nachkrieg und Disko, Flüchtlingsmütterlein und Punk überlappen

VON ROBERT SCHIMKE

Großmütter mit Kittelschürze und Kopftuch, Städte in Nachkriegsoptik: Wer sich die sozialdokumentarische DDR-Fotografie der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre anschaut, wohnt einer Zeitreise bei. Keine Spur von Arbeiterhelden, Plattenbau, Waschmaschinen für alle. Stattdessen Archaisches, Konserviertes und Moribundes.

Die Ausstellung „Die andere Leipziger Schule – Fotografie in der DDR“, die derzeit in der Kunsthalle Erfurt zu sehen ist, verdeutlicht, was die staatsferne, im Eigenauftrag entstandene dokumentarische Fotografie der DDR ausmachte: Sie hielt an den Konventionen von Wahrhaftigkeit und „entscheidendem Augenblick“ fest, als im Westen die Authentizität der Fotografie längst infrage gestellt wurde. Sie erzeugte bewusst Gegenbilder zu den Bildforderungen des sozialistischen Realismus. Und sie fand größtenteils in Leipzig statt: an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, an der seit den 1860er-Jahren die Arbeit mit der Kamera gelehrt wurde.

Mit zwei Hauptvertretern der dokumentarischen Fotografie Leipziger Prägung öffnet die Ausstellung: Evelyn Richter und Wolfgang G. Schröter finden Ende der Fünfzigerjahre mit anderen Fotografen zur Gruppe „action fotografie“ zusammen und bilden den Nukleus dessen, was die Ausstellung in ihrem Titel postuliert. Wie in der Malerei hat es prägende Lehrer-Schüler-Verhältnisse an der Leipziger Akademie gegeben. Anders aber als die Maler der Leipziger Schule eint die Fotografen formal mehr, als sie trennt: Ihr Blick wurde geschult an der amerikanischen Life-Fotografie, später an den Arbeiten der Fotoagentur Magnum. Ihre Bilder kommen ohne Kunstlicht aus, verdichten die Wirklichkeit zu Sinnbildern.

Als „Poetisierung des realen Lebens“ ist diese Perspektive der Generation um Evelyn Richter beschrieben worden. Zur Tradition wird sie, als HGB-Schüler Helfried Strauß in den Siebzigerjahren Lehrer wird. Ab 1979 fotografiert er sein Opus magnum: eine Fährfrau am sächsischen Fluss Mulde. Auch Werner Mahler und Thomas Kläber finden Szenen aus dem Landleben: Fütterung und Schlachtung des Viehs, Backstube mit Bäcker und Katze. Sie alle zeigen auf paradoxe Weise gleichzeitig die Gegenwart im Improvisationsstaat und bilden doch eine Vergangenheit ab, die gerade noch so in die Achtzigerjahre hineinragt, das Jahrzehnt, in dem sich Nachkrieg und Disko, Flüchtlingsmütterlein und Punk überlappen.

Erst Strauß’ Schüler, die in den Achtzigerjahren ausgebildeten Fotografen, hinterfragen Romantik und Wahrhaftigkeitsanspruch. Erasmus Schröter stellt für sein Diplom eine noch heute überraschende Serie von Menschen bei Nacht mit Infrarotlicht her. Florian Merkel und Klaus Elle operieren mit Selbstinszenierungen und Mehrfachbelichtungen. Die Generation, die in den Achtzigern in Leipzig Fotografie studiert, wählt einfach selbst, ob sie mit der Cartier-Bresson’schen Tradition bricht.

Doch die Ausstellung ist so klug, diese Geschichte nicht linear zu erzählen. Stattdessen setzt sie Ute Mahlers Fotoserie über Ibrahim Böhme an den Schluss. Für den Stern begleitet Mahler 1990 den SPD-Kandidaten fürs Amt des ersten frei gewählten DDR-Ministerpräsidenten. Vom strahlenden Hoffnungsträger an der Seite Willy Brandts zum enttarnten Stasi-Mann: Im letzten Bild liegt Böhme krank, wie aufgebahrt im Bett. Da zeigt die Ausstellung, was die „Leipziger Foto-Schule“ am besten konnte: den „Mensch im Mittelpunkt“ zu zeigen, wie Helfried Strauß es genannt hat.

Warum aber geriet diese Art der Fotografie nach 1989 ins Hintertreffen? Die Generation der zur Wendezeit entlassenen und teilweise auch gedemütigten Lehrer sagt, sie sei entsorgt worden. Ebenfalls richtig aber ist, dass mit der Öffnung der Konservendose DDR die Geschäftsgrundlage eines dissidenten Realismus wegfiel. Nicht zufällig wenden sich drei der bekanntesten Vertreter der „Leipziger Fotoschule“ vorübergehend vom Menschen ab: Helfried Strauß fotografiert Steinfiguren in Sanssouci, Arno Fischer zieht es in Gärten, Evelyn Richter in Landschaften.

Heute dominiert in den Leipziger Fotoklassen die konzeptuelle und inszenierte Fotografie. Aber wer weiß, vielleicht ziehen Fotografiehistoriker in 30 Jahren eine Linie von Evelyn Richter über Ute Mahler hin zu Tobias Zielony, einem Leipziger Absolventen der letzten Jahre, der Getto-Jugendliche von Bristol bis Halle-Neustadt fotografiert.

Zielony schilderte unlängst, wie seine Bilder aufgenommen würden: Den Bildredaktionen der Zeitungen fehle die Story, den Galeristen seien sie zu narrativ. Wären Richter, Strauß und Fischer heute frisch diplomiert, vielleicht würde man ihnen dasselbe sagen.

■ Kunsthalle Erfurt, bis 31. Januar. Ein Katalog ist im Kerber Verlag erschienen