Küchenabfall für alle

Festmahl: Eine edel aufgemachte „Bibliothek der Weltweisheit“ sorgt bei Vollcheckern für Entschleunigung und bei Mobbing-Opfern für Entlastung. Laotse, Seneca oder Gracián bieten echte Alternativen zu den Neoethiken im Wellness-Zeitalter

Falls die wichtigste Währung schon damals Aufmerksamkeit hieß, blieb Nietzsche eindeutig unter seinen Möglichkeiten

VON JAN ENGELMANN

Mittlerweile gibt es so viele Bücher zu einer wie auch immer gearteten „Lebenskunst“, dass man sich fragt, wie man ohne sie bislang einigermaßen unfallfrei und unbedrängt von suizidalen Tendenzen vor sich hin stolpern konnte. Manch einer war ja dankbar für das alltagspragmatische Vermindern der Optionen, wie es in „Simplify your life“ zur Richtschnur erhoben wurde. Andere hielten es eher mit Wilhelm Schmids von der Spätantike inspirierten Empfehlungen zu einer „Selbstsorge“ für rat- und rastlose Individuen. Doch spätestens seit ein neuerer Ratgeber-Bestseller ernsthaft die Devise „Liebe dich selbst (und es ist egal, wen du heiratest)“ ausgab, offenbarte sich die immergleiche Machart dieser gut gemeinten Denkanstöße: Ein wenig Psycho-Talk, ein wenig „beseelte“ Erfahrungsbeichte – fertig ist die therapeutische Trostschrift.

All diese Neoethiken fürs Wellness-Zeitalter haben etwas gemein: In ihnen drückt sich eine allgemeine Tendenz aus, den eigenen Intuitionen in Bezug auf ein „richtiges“ Leben nicht zu vertrauen. Was früher die Peer Group, der Guru oder die Denkschule verlässlich für einen erledigte, bleibt heute einer unsicheren Suchbewegung überlassen. Da die Politik mittlerweile nicht mehr Leitideen vorgibt, als lediglich „Freiheit zu wagen“, steht dieses autoritative Vakuum sämtlichen Okkupationsversuchen offen. Neben einer Renaissance der Religion wäre auch eine neuerliche Konjunktur für die Philosophie durchaus denkbar. Denn mit ihrem immer öfter gestellten Anspruch, neben systematischen Begriffsarbeiten auch eine lebenspraktische „Weltweisheit“ zu vermitteln, schickt sie sich an, in der Bewusstseinsindustrie neu zu punkten.

Weltweisheit – welche Wucht dieses Wort hat, welchen Absolutheitsanspruch es vor sich her trägt, ein Aufschneider unter den Vokabeln. Weltweisheit: das klingt wie „Raumklang“ oder „Systemfußball“, in jedem Fall aber wie ein Versprechen, das niemals ganz erfüllt werden kann.

Vor mir liegt eine „kleine“ – diese Einschränkung immerhin gibt es – „Bibliothek der Weltweisheit“. Zwölf schmale Taschenbücher, herausgegeben von dtv/Beck, sechs Euro pro Band. Die Autoren erscheinen in alphabetischer, also beliebiger Reihenfolge, eine andere Anordnung hätte bei diesem bunten Haufen ohnehin wenig Sinn gemacht: Boethius, Buddha, Epiktet, Gracián, Hildegard von Bingen, Konfuzius, Laotse, Montaigne, Nietzsche, Schopenhauer, Seneca, Voltaire. Der Verlag verspricht „zwölf herausragende Texte zu universellen Themen des Lebens“. Erster Eindruck: ein Muss für Weltweisheitssuchende, ein Rundumsorglospaket für fröstelnde Harfenspieler in der arschkalten Spätmoderne.

Zweiter Eindruck: irgendwie doch edel, essenziell, erhaben. Nicht zuletzt, weil diese Paperbacks, wie man so schön sagt: „bibliophil“ aufgemacht, vom englischen Buchgestalter David Pearson mit geprägten Covern versehen wurden. Was Feines für unter den Weihnachtsbaum. Der diensthabende taz-Redakteur hegte bei der Vorbesprechung dieses Artikels die Vermutung, es handele sich bei diesem editorischen Projekt um den Versuch, das Unternehmenscredo der exklusiven Warenhauskette Manufactum – „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ – auf den darbenden Philosophiebüchermarkt zu übertragen. Doch geht es hier wirklich darum, Retro-Produkte mit einer besonderen Aura der Qualität und Langlebigkeit auszustatten? Wenn dem so wäre, dann hätte es ja schon eine schweinslederne Ausgabe mit Goldkante sein müssen, keine wohlfeile Serie im Stile der SZ-Kompilationen für Studiosi und Alleshorter.

Nein, dieses kecke Weltweisheitsendjahresdingsbums zielt nicht (zumindest nicht allein) auf das Stilempfinden elitärer Konsumenten, sondern macht tatsächlich Ernst mit seiner Ankündigung, „zeitlos gültige Fragen“ aufzuwerfen. Es geht um die großen Baustellen, um Freundschaft, Liebe, Arbeit, Tod und die Dinge dazwischen. Was ist Glück? Wie handeln wir richtig? Und wie muss man es anstellen, um im Herbst seines von Ups and Downs nicht gänzlich freien Lebens peinlichkeitsfrei erörtern zu können: „Warum ich so klug bin“? Hätte der hineinkompilierte Nietzsche zu Lebzeiten eine solche Buchreihe erblickt, sein grimmiges Gelächter wäre heute noch der meistgeladene Klingelton.

Natürlich kann man dessen egomanischen Schmarrn aus „Ecce Homo“ nicht lesen, ohne des Öfteren das Gefühl zu haben, hier werde Lebensglück doch eben sehr eng als berufliche Erfolgsbilanz gefasst. Die ungefilterten Hassausbrüche gegen seine Fachkollegen, die ihm die fällige Anerkennung verweigerten, zeigen Nietzsche als einen Homo oeconomicus, als tragisches Opfer seiner Nichtbeachtung. Falls die wichtigste Währung schon damals Aufmerksamkeit hieß, blieb der Naumburger Gotteslästerer eindeutig unter seinen Möglichkeiten. Dies ahnte er freilich bereits mit dreißig voraus, als er als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens angab: „Setze dir hohe Ziele und gehe daran zugrunde.“ Nicht zuletzt diese offensive Kurt-Cobain-Haftigkeit war es ja, die ihn zu einem schlecht beleumundeten Rollenmodell für hochnervöse Künstlerexistenzen machte.

Doch wie muss man es anstellen, seine geistige Souveränität zu behaupten und eben nicht wie Nietzsche zu enden? Der antike Stoiker Epiktet empfiehlt in seinem „Encheiridion“ (Handbüchlein) vor allem Gemütsruhe. Seine knapp gehaltenen Lebensregeln – überschrieben etwa mit: „Begehre nichts Unmögliches“ oder „Schlechtes nimm auch für gut!“ – lassen erkennen, dass das stoische Gebot der Gelassenheit noch von zeitgenössischen Sorge-dich-nicht-lebe-Propagandisten dankbar aufgegriffen wird. Dass diese umfassende Affektkontrolle sogar der existenziellen Passivität Forrest Gumps („Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt“) verwandt ist, wird deutlich, wenn Epiktet die wahre Lebenskunst mit der Situation bei einem Gastmahl vergleicht: „Man bietet etwas herum, und es gelangt zu dir: – strecke die Hand aus und nimm bescheiden davon! Es geht an dir vorüber: – halte es nicht auf! Es will immer noch nicht kommen: – blicke nicht aus der Ferne begehrlich darauf hin, sondern warte, bis es an dich kommt. Ebenso halte es in Bezug auf Kinder, Frau, Ämter und Reichtum; dann wirst du einst ein würdiger Tischgenosse der Götter sein.“

Damit wäre jedoch gesagt, dass die stoische Weltweisheit für unsere eilige, an schnelle Gratifikationen gewöhnte Leistungsgesellschaft so etwas wie ein Gegenüber darstellt. Der Duldsame macht sich allenthalben verdächtig, die Spielregeln des Kapitalismus einfach nicht verstanden zu haben. Ein hastig hingeschnoddertes „Ich bin doch nicht blöd!“ ist die bevorzugte Äußerungsform des flinken Vollcheckers; und sei es nur, weil er einen albernen Preisnachlass erblickt hat. Kurzfristig mag ihm das durchaus Vorteile bringen, langfristig aber – so dürfen wir Epiktet verstehen – macht es ihn zum willenlosen Opfer seiner Reflexe.

Wie man sich in einem sozialen Umfeld behauptet, das durch den ständigen Kampf um bessere Aussichten bestimmt ist, weiß wiederum Balthasar Gracián. Dessen „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ von 1647 ersetzt ganze Bibliotheken machiavellistischer Managementliteratur. Wer beispielsweise wissen will, wie man sich vor Mobbing am Arbeitsplatz schützt, seine Kernkompetenzen wirkungsvoll ins Spiel bringt oder den Chef glauben machen lässt, man sei für höhere Aufgaben geboren, der lese diesen Text, dem Schopenhauer einst eine kongeniale Übersetzung angedeihen ließ. Auch Gracián, darin den Stoikern verhaftet, sieht Affekte als „krankhafte Säfte der Seele“. Die Maske der Coolness, die spätestens im zwanzigsten Jahrhundert ihre endgültige Ausformung fand, ist hier bereits das Paradigma einer autarken Lebensführung, die auch den Bluff als Taktik des sozialen Scheins legitimiert.

Nun ist die Frage nach dem „richtigen“ Leben immer auch eine Frage des richtigen Maßes – zwischen Egoismus und Empathie, Beruf und Berufung, Maloche und Muße. Senecas Überlegungen zum Wesen der Zeit in der Abhandlung „De brevitate vitae“ (Von der Kürze des Lebens) nehmen bereits vieles von dem vorweg, was heute als Aufrechnung einer gesunden work-life-balance kursiert. Wenn der römische Philosoph dringend davor warnt, „auf das fünfzigste und sechzigste Jahr alle Heilspläne hinauszuschieben“, so wünscht man sich, seine Kritik der „Zeitverächter“ fände noch einen Nachhall in jenen Kommissionen, die sich die Rente mit 95+ und schlimmere Grausamkeiten ausdenken.

Gäbe es eine Lieblingsstelle in dieser annähernd 1.800 Seiten starken Textmasse, es wäre vielleicht der Hinweis Laotses: „Wer selber sich hervortut, wird nicht erhoben. Er ist für den SINN wie Küchenabfall und Eiterbeule.“ Wie armselig das Leben doch war, als man solche Sätze schon begraben hatte, in einem Schatz der sublimen Maximen.

„Kleine Bibliothek der Weltweisheit“. Zwölf Texte zur guten und richtigen Lebensführung von Boethius, Buddha, Epiktet, Balthasar Gracián, Hildegard von Bingen, Konfuzius, Laotse, Michel de Montaigne, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Seneca und Voltaire. Dtv/Beck 2005. Jeder Band à 6 €