AUF DER FRIEDRICHSTRASSE
: Demotourismus

Endlich kann man auch mal ein Teil des großen Ganzen sein

Die Luft friert, als der Protestmarsch des Refugeecamps am Oranienplatz beginnt. Quer durch Kreuzberg soll es gehen, durch die Friedrichstraße, vorbei an Checkpoint Charlie in der Rudi-Dutschke-Straße und Potsdamer Platz, bis zum Brandenburger Tor. „Die meisten Sehenswürdigkeiten klappern wir quasi auf der Demo ab“, sage ich zu meiner Begleitung, die in Berlin zu Besuch ist. So ein Protestmarsch bietet sich perfekt für eine Sightseeing-Tour an.

Der Kreuzberger Melting-Pot aus alternativen Kunstliebenden, hippen Yuppies, Allerweltsleuten und ausgefallenen Paradiesvögeln am Anfang der Tour kontrastiert mit der Schickeria in Mitte. Die breiten Bürgersteige der Friedrichstraße, dicht gefüllt von Shoppenden, vermitteln einen Eindruck der Dekadenz.

Unser Spaziergang führt nicht nur an vielen Touri-Zielen vorbei, sondern ist auch so langsam, dass man sich kurz von der Masse entfernen und Straßenschilder, Streetart, lustige Menschen oder sich selbst fotografieren kann.

Dabei ist man von subkulturellen HauptstädterInnen umzingelt: Meist komplett in Schwarz gekleidet, mit kecken Aufnähern geschmückt und freche Schilder tragend, verkörpern sie das authentische, vom Aussterben bedrohte Berlin. Hier kann man sich sicher sein, dass man keine anderen Touris trifft.

Und nicht nur das: Endlich kann man auch mal ein Teil des großen Ganzen sein, man wird selbst zur Sensation. Beim Passieren der Friedrichstraße ernten wir Blicke: neugierige, genervte, abschätzige, lobende.

Ein Paar mittleren Alters scheint besonders viel Interesse für uns zu hegen. In ihrem dicken Pelzmantel stellt sie sich mit dem Rücken zum Marsch hin, streckt sich in eine adrette Pose und lässt sich von ihrem Mann vor dem dunklen Mob fotografieren. Auch wir sind nur eine Attraktion unter vielen.

HENGAME YAGHOOBIFARAH