Russlands Naher Osten

Warum Syrien für den Kreml so wichtig ist von Michael Thumann

Man spricht Russisch in Damaskus. Die Hauptstadt Syriens ist die einzige Metropole in der arabischen Welt, wo der Besucher aus Moskau sich hier und da in seiner Muttersprache unterhalten kann. Die russischsprachigen Syrer haben oft Universitäten in Moskau, Minsk oder Kiew besucht. Außerdem leben in Syrien fast 30 000 Russen. Russische Nahostexperten mit Arabischkenntnissen wiederum haben meistens in Damaskus studiert. Syrien – das ist Russlands Naher Osten. Der syrische Aufstand konnte Moskau nicht kalt lassen.

Es gibt viele Gründe, warum die russische Regierung seit zwei Jahren Baschar al-Assad mit umfassenden Waffenlieferungen gegen die syrische Opposition unterstützt. In Syrien selbst ist der emotionale Teil dieser Beziehungen offensichtlich. Doch die wichtigsten Motive für die Waffenbrüderschaft von Putin und Assad liegen außerhalb des vom Krieg zerrütteten Landes. Es geht um Machtpolitik. In Syrien entscheidet sich für Moskau viel: sein Einfluss im Nahen Osten ganz bestimmt und vielleicht seine Bedeutung in der internationalen Politik überhaupt.

In den syrischen Mittelmeerstädten Tartus und Latakia ist es ganz normal, wenn Frauen Natascha, Jelena oder Olga heißen. Manche von ihnen sind jung und blond, gerade erst angekommen. Doch andere haben längst graue Haare und leben seit Jahrzehnten hier. Seit den 1960er Jahren heirateten syrische Männer russische Frauen und holten sie nach Syrien. Das hatte Vorteile für beide: Der Mann musste nicht die in Syrien übliche hohe Mitgift zahlen, und die Frau bekam einen Mann, der keinen Wodka trank und auch noch frei reisen durfte. Die meisten Paare lernten sich während des Studiums der syrischen Männer in Moskau kennen. Die Sowjetunion zog viele Studenten aus arabischen Staaten und der Dritten Welt an. 1960 wurde für sie eigens die „Universität der Völkerfreundschaft Patrice Lumumba“ gegründet, um deren Campus die Moskauer Mädchen spazierten. Neben dem Wissen exportierte die UdSSR auf diese Weise ihr „Bestes“, das stets am 8. März mit viel Wodka gefeiert wurde: die Frauen.

Möglich wurden die innigen Beziehungen durch die Machtergreifung der syrischen Baath-Partei 1963. Die „antiimperialistische“, sozial-nationalistische Bewegung stand ideologisch der Sowjetunion nahe. Moskau unterstützte Syrien mit Beratern, Entwicklungshelfern, unverwüstlichen Lastwagen und Waffenlieferungen auf dem Weg in die Moderne. 1971 konnten die Sowjets im Gegenzug den Marinestützpunkt in Tartus eröffnen – den einzigen Stützpunkt Moskaus im Mittelmeer, inzwischen auch der einzige außerhalb des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs.

Es war also vorauszusehen, dass Russland sich in Syrien anders verhalten würde als beim Aufstand in Libyen. Dort hatten Frankreich und Großbritannien 2011 mithilfe der USA eine UN-Resolution zur Intervention erwirkt und den Diktator Gaddafi gestürzt. Moskau schmollte und hielt sich heraus. Gaddafi war nicht ihr Mann, und die russischen Interessen in Libyen waren ohnehin begrenzt. Allerdings entschied man sich während des Libyenkriegs, kein weiteres militärisches Eingreifen des Westens in der arabischen Welt zu tolerieren.

Es ist viel die Rede von russischen Waffenlieferungen, die so bedeutsam seien, dass Moskau den syrischen Markt unbedingt behalten wolle. Das ist ein Trugschluss. Erstens ist fraglich, was Baschar al-Assad den Russen überhaupt dafür zahlen wird: Denn Moskau liefert zu den Rüstungsgütern auch gleich die Kredite, damit sich der Diktator über die Runden retten kann. Zweitens ist Russland als Waffenexporteur für Syrien wichtig, aber nicht umgekehrt. Nach Zahlen des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri machten die Exporte nach Syrien 2010 weniger als 3 Prozent der gesamten russischen Rüstungsausfuhren aus. Waffenlieferungen an Syrien sind für Moskau also keine Einnahmequelle, sondern eher eine notwendige Ausgabe.

In Syrien steht für Moskau sein Einfluss im Nahen und Mittleren Osten auf dem Spiel – und sein Prestige in der Welt. Als bedrohlich werden drei Faktoren betrachtet: das Vordringen der USA, der Aufschwung der Islamisten und die Schwächung des Iran.

Durch die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen besitzt die russische Regierung ein Instrument, die Vereinigten Staaten, aber auch Frankreich und Großbritannien in die Schranken zu weisen. Zugleich ist das Vetorecht im Sicherheitsrat für Russland das letzte Zertifikat seines alten Weltmachtstatus – Atomwaffen hat mittlerweile ja sogar Nordkorea. Das Vetorecht war nützlich in der Syrienkrise: Jede auch nur in Ansätzen schärfer formulierte Resolution gegen das Assad-Regime wurde noch im Entwurfsstadium von russischen Diplomaten vom Tisch gefegt. Der Sicherheitsrat ist für Moskau die Arena, in der sich die Supermacht USA zähmen lässt.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 22 Jahren mussten Moskauer Diplomaten mit ansehen, wie die USA ihre Präsenz im Nahen und Mittleren Osten stetig ausdehnten. Es begann 1991 mit dem Ersten Golfkrieg nach der irakischen Invasion Kuwaits. Damals stimmte der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow der US-Offensive gegen Saddam Hussein noch zu. Aus Sicht der USA war das gemeinsame Vorgehen gegen den irakischen Diktator beispielhaft für eine neue globale Ordnungspolitik unter Führung der Vereinigten Staaten.

Nationalisten in Moskau allerdings sahen in Gorbatschows Kooperation eher ein unverzeihliches Einknicken vor den US-amerikanischen Allmachtsfantasien. Nahostspezialisten wie der spätere Premierminister Jewgeni Primakow erinnerten sofort an den schmerzlichen Rauswurf der Russen aus Ägypten, als das Land Mitte der 1970er Jahre unter Anwar al-Sadat von Moskau in Richtung Washington umschwenkte. Damals musste die sowjetische Marine vom Suezkanal abziehen.

In der Tat ist der Eindruck, dass sich Moskau aus der Region zurückgezogen hat, kaum zu leugnen. Ob in Libyen nach der Lockerbie-Affäre oder im ehemals sozialistischen Südjemen, ob bei der Kontrolle des Suezkanals und der Bab-al-Mandeb-Meerenge vor Dschibuti – überall mussten die Russen weichen, während die Amerikaner ihren Einfluss ausweiteten. Besonders sichtbar wurde das in Afghanistan und im Irak. Mit der militärischen Zurückdrängung der Taliban in Afghanistan seit Ende 2001 bauten die USA ihren Einfluss in Zentralasien aus – in Gebieten also, die bis in die 1980er Jahre unter der Kontrolle Moskaus standen. Der Irak war zwar kein Verbündeter Russlands, doch mit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 fiel ein Herrscher, der den USA in der Region stets Paroli geboten hatte. Die Politik des erklärten „regime change“ der Regierung von George W. Bush lehnte Russland ohnehin vehement ab. Eine solche Strategie sah man am Ende gegen sich selbst gerichtet.

Nach Ansicht von Moskauer Nahostexperten hatten die Invasionen der USA vor allem ein Resultat: „Wo immer die USA in der islamischen Welt eingreifen, fördern sie letztlich islamistisch-militante Regime“, sagt Michail Margelow, Vorsitzender des außenpolitisches Ausschusses im Russischen Föderationsrat, „also genau das, was sie zu verhindern vorgeben.“ Der arabischsprachige Margelow erinnert an Afghanistan in den 1980er Jahren, als US-Geheimdienste die Mudschaheddin gegen die sowjetischen Truppen aufrüsteten. Später hätten sich die radikalen Islamisten gegen die Amerikaner selbst gewandt. Auch die arabischen Aufstände hätten mit US-amerikanischer Zustimmung Islamisten den Weg an die Macht geebnet, wie man in Ägypten und Tunesien sehen könne. In Syrien würden die USA schon wieder an der Seite der Islamisten stehen. Auch wenn die Gleichsetzung von militanten Dschihadisten und islamistischen Politikern absurd ist – hier zeigt sich die spezielle Moskauer Sicht auf die arabische Welt.

Die Islambesessenheit des Kreml ist nur durch die Verwerfungen an Russlands südlichen Grenzen und an der Wolga zu erklären. Im Kampf gegen die Mudschaheddin in Afghanistan rieb sich die sowjetische Armee auf. Im Kaukasus – insbesondere in Tschetschenien und Dagestan – kämpft die russische Armee seit den 1990er Jahren gegen Aufständische, von denen ein kleiner Teil der Idee vom islamischen Kalifat anhängt. Russlands interne Kriege haben mit den Jahren unzweifelhaft die dschihadistische Internationale ins Land gelockt. Sogar im sonst ruhigen Tatarstan an der Wolga hat es Anschläge gegeben, die solchen Gruppen zugeschrieben werden.

Genau diese Muster sieht Moskau auch in Syrien entstehen: Auf der einen Seite der säkulare, rationale Verbündete Russlands, Baschar al-Assad, auf der anderen die islamistischen Kräfte, gepäppelt von den ebenfalls islamistischen Golfstaaten und von den USA. In der Tat liefern Saudi-Arabien, Katar und die Türkei Waffen an die Freie Syrische Armee, assistiert von der CIA. Aus Sicht der Golfstaaten und der USA hilft man auf diese Weise der legitimen Opposition gegen einen brutalen Diktator. Russische Politiker halten den USA vor, radikale Islamisten gegen die Regierung Syriens aufzurüsten.

Es gibt jedoch ein islamistisches Regime, mit dem die russische Regierung kein Problem hat: mit dem in Teheran. Das hat nichts mit religiösen, sondern ausschließlich mit machtpolitischen Gründen zu tun. Iran – das ist für Moskau nicht der Mullahstaat, sondern ein Land, das die Außenpolitik der USA auf das Angenehmste erschwert und deren Einfluss in der islamischen Welt begrenzt. Und Syrien hat viele gemeinsame Interessen mit dem Iran.

Syrien stellt für Russland wie den Iran den wichtigen Zugang zum Mittelmeer dar, außerdem ein Gegengewicht zu den proamerikanischen Golfstaaten, einen verlässlichen Gegner US-amerikanischer Interessen in der Region, den einzig sicheren arabischen Verbündeten, einen eher armen, da nicht mit Ölreichtümern gesegneten und daher abhängigen Staat. Für den Iran kommt noch hinzu, dass über Syrien die schiitische Hisbollah im Libanon mit Waffen versorgt wird, was für Russland zunächst nicht so interessant ist. Doch eine Schwächung der Stellung Irans in Syrien würde auch Russland schaden.

Längst ist der syrische Stellvertreterkrieg zum großen Nullsummenspiel geworden. Hält sich Assad, gewinnen Iraner und Russen; obsiegt die sunnitisch geprägte Opposition, gewinnen Saudis, Katarer, Türken und Amerikaner. Wenn Syrien umgedreht würde und eine prosaudische oder sogar proamerikanische Regierung bekäme, hätten der Iran und Russland doppelt verloren. Der Iran würde von Israel und den USA obendrein wegen seines Atomprogramms noch stärker unter Druck gesetzt.

Diese entscheidende Schwächung des Iran und die Stärkung Saudi-Arabiens will die russische Regierung unbedingt verhindern. Deshalb ist mit der im Westen immer wieder erhofften Einigung mit Russland auf ein gemeinsames Vorgehen in Syrien nicht zu rechnen.

Im dritten Jahr des syrischen Krieges ist es mit den Eindeutigkeiten ohnehin vorbei – kaum vorstellbar, dass eine Seite noch klar siegen könnte. Die Frontlinien verschieben sich seit langer Zeit nur wenig. Assad wird vielleicht irgendwann – wenn er gezwungen würde – Damaskus aufgeben, aber sein Clan kann sich jederzeit in den alawitisch dominierten Regionen nahe Latakia vergraben. Die von der arabisch-türkischen Koalition gestützte Opposition mag an manchen Stellen vorrücken, verliert aber gleichzeitig Territorium an dschihadistische und kurdische Gruppen. Am Ende regiert keiner.

Zerfall ist das wahrscheinlichste Szenario für Syrien. Für die Türkei und den gesamten Nahen Osten wäre das eine Katastrophe. In Moskau und Teheran würden es die Nationalisten als Erfolg verbuchen, dass das Land wenigstens nicht dem Westen in den Schoß gefallen sei. Die Taktik der hochgerüsteten iranischen Milizen auf syrischem Territorium zielt heute schon auf einen Krieg ohne Ende.

Michael Thumann ist Mittelost-Korrespondent der Zeit.

© Le Monde diplomatique, Berlin