Regenrinnen im Schädelinnern

Verunglückter Zynismus, aber elegante Reimsetzung: Durs Grünbeins Dresden-Gedichte „Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt“

„Weltgeschichte ist Stadtgeschichte“, schreibt Oswald Spengler. „Ach, Geschichte“ heißt es in einem von 49 Gedichten, die Durs Grünbein angeblich während der letzten dreizehn Jahre auf seine Heimatstadt Dresden geschrieben hat und die nun unter dem großgestischen Titel „Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt“ zu einem elegischen Memorial zusammengefasst erschienen sind.

„Ach, Geschichte“ wäre eine vertretbare Haltung gewesen. So ein resignativer Seufzer, der kühle Distanz und persönliche Bezugnahme zugleich ermöglicht hätte – gerade bei diesem nicht unheiklen Thema. Es geht schließlich nicht zuletzt auch um geschätzte dreißigtausend Tote und, eben, um Geschichte.

Stattdessen zielt Grünbein auf das große Panorama entlang der schlanken S-Kurve im Elbtal. Enzyklopädik statt sprechendem Detail: von Baumeister George Bähr bis Bomber Harris. Die Frauenkirche samt Glocke, Zoo und Zwinger, Zauberflöte in der Semperoper. Bach darf noch einmal eine Orgel probieren, und zwischendurch wird ein kleiner Junge zu Bett gebracht. Alles zieht dahin im trochäischen Gleichmaß. Und natürlich auch das titelgebende Porzellan, das sich so schön idiomatisch zerschlagen lässt. Überhaupt die Redensarten: Auch den Kalauer von der „Bombenaussicht auf den Flickenteppich Stadt“ kann Grünbein sich nicht verkneifen.

Das Hauptproblem scheint gerade dieser verunglückte Zynismus, mit dem er eine Position zu seinem Stoff sucht und dabei zuweilen wie geschmiert ins Peinliche abrutscht. Da wird die „Kristallnacht“ zum „Glückstag für Glaser“, und ganz ohne Anführung oder Kursiva steht andernorts ein „Blitzkrieg, hei!“ Die Frage nach dem möglichen Sprecher wird zur Frage nach einem „Schlitzohr, ist er Sachse?“ Und die Nazis rudeln auch schon mal als „Lumpenpack“. Sicher, das ist anverwandeltes Reden in Zungen. Aber derart niedlich und betulich dürfte selbst in den Vierzigerjahren kein Mensch ernsthaft gesprochen haben, zumal nicht darüber. Wenn dann auch noch Troja und Pompeji als Vergleichsgrößen bemüht werden, ist man als nun schon deutlich weniger geneigter Leser geneigt, das Buch mit jenem Seufzer „Ach, Geschichte“ in die Ablage zu befördern.

Traurigerdings ist rein handwerklich an den Gedichten kaum etwas auszusetzen. In der historischen Ereignisfolge geht manchmal etwas durcheinander, und auch ein paar Bildfügungen sind mitunter, nun ja, gewagt: „Porzellan: das ist, als ob man durch ein Brennglas schielt.“ Das wird in solcher Transparenz doch sehr erlesenes Tongut gewesen sein. Aber schon wie Grünbein Reime zu setzen weiß, gerade die unreinen, ist schrecklich elegant. Wenn sich beim Gedankenlesen „im Schädelinnern“ „Regenrinnen“ wiederfinden oder ein „Komponist“ mit seinen vier letzten Liedern „von Geschichte angepißt“ im Raum stehen bleibt, leckt Lyriklesers Zunge sich genüsslich die vorgelagerten Lippen.

Allein, der Sound bleibt hohl. Was dieses Sujet an Widerständigem, Schmerzhaftem zu bieten gehabt hätte, ruht wohl weiterhin im Elbschlick. Unter der sorgsam polierten Oberfläche bleiben die Texte seltsam fad, wie Stellwanddokumentationen in Geschichtswerkstätten. And by the way: Soweit bekannt ist, gibt es Dresden noch. NICOLAI KOBUS

Durs Grünbein: „Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 72 Seiten, 14,80 Euro