Rübergemacht

GESCHICHTE Vor 60 Jahren eröffnete das Notaufnahmelager Marienfelde. 1,35 Millionen Menschen flüchteten von hier in den Westen. Plädoyer gegen das Vergessen eines Ortes

Marienfelde ist als Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der Stadt wenig präsent

VON ANTJE LANG-LENDORFF
UND MARTIN RANK

Man kann sicher sein, dass Bundespräsident Joachim Gauck an diesem Sonntag sein Lieblingswort „Freiheit“ wieder erheblich strapazieren wird. Beim Festakt zum 60. Jahrestag des Notaufnahmelagers Marienfelde wird der Bundespräsident eine Rede halten. Und sosehr sich seine Beschwörung der Freiheit auch wiederholt: An wenigen anderen Orten ist sie so angebracht wie hier.

Das Notaufnahmelager Marienfelde im Süden der Stadt bedeutete für 1,35 Millionen Menschen das Tor zum Westen. Hier mussten Ost-Flüchtlinge, die über Berlin kamen, vorstellig werden. Anschließend wiesen ihnen die Behörden in der Bundesrepublik ein neues Leben zu. Sie ließen alles hinter sich: Familie, Freunde, ihre Arbeit, ihr Zuhause. In Marienfelde erfuhren sie ihre „persönliche Stunde null“, wie ein Flüchtling es beschrieben hat. Viele, die heute prominent sind, durchliefen die Mühlen der Bürokratie des Lagers: Manfred Krug saß hier, ebenso Dieter Hallervorden und die Schriftstellerin Julia Franck.

Es ist nicht zu hoch gegriffen, Marienfelde als das „Ellis Island“ Berlins zu bezeichnen – jene Insel vor Manhattan, von der aus über 22 Millionen Menschen in die USA einwanderten, ein Ort verbunden mit unzähligen Sehnsüchten und Hoffnungen. Ellis Island ist heute einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten New Yorks.

Anders Marienfelde: Lediglich 12.000 Frauen und Männer besichtigten 2012 das Museum im ehemaligen Notaufnahmelager. Dagegen freute sich die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße 2012 über rund 690.000 BesucherInnen. Auch den ehemaligen Stasi-Knast in Hohenschönhausen besichtigen jährlich 330.000. Sicher, Marienfelde liegt weit draußen in einer langweiligen Umgebung. Doch daran allein kann es nicht liegen.

Die Zahlen spiegeln wider, wie wenig das Notaufnahmelager Marienfelde als Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der Stadt präsent ist. Bei der Erwähnung des Namens steht vor allem Jüngeren ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Das ist schade – und wird der Bedeutung des Ortes nicht gerecht.

Wie ein Flüchtling Marienfelde erlebt hat und warum ein Besuch heute lohnt SEITE 44, 45