Begegnung und Beobachtung

LEBENSWELT Flaneur in der flirrenden Metropole Tel Aviv: Der Publizist Marko Martin hat ein unterhaltsames, kenntnisreiches Stadt-Lesebuch geschrieben

VON CHAIM NOLL

Es ist das Buch eines Verliebten. Seit 20 Jahren reist der Berliner Journalist Marko Martin immer wieder nach Israel. Gegenstand seiner Liebe ist Tel Aviv, die magische Metropole am Meer. Dort ist die Strandpromenade, auf der zu jeder Tages- und Nachtzeit spontane Partys ausbrechen, die Front der Glitzerhotels, dahinter die Parks mit ihren Verlockungen, das Gewirr der Geschäftsstraßen, die Wolkenkratzer der Hightech-Firmen, die gläsernen Burgen der Banken und Anwaltskanzleien, und in ihrem Schatten, in den Bauten des frühen 20. Jahrhunderts, den charmanten, von Sand und Meer verwitterten Häusern der Bauhaus-Architekten, in der Dizengoff-, Frishman-, Arlozorov-, der Ibn-Gvirol- oder Allenby-Straße, die Bars, Restaurants, Nachtclubs, Cafés.

Hier hat Marko Martin ein gefühltes Zuhause gefunden, den Ort seiner Sehnsucht. Tel Aviv ist eine junge Stadt, 1909 gegründet, mitten in den Sanddünen am Mittelmeer, inzwischen gigantisch gewachsen, mit Nachbarstädten verschmolzen, mit Ramat Gan, Givatajim, Bat Jam, Cholon, Bnej Brak, Herzlija und anderen, zu einem Konglomerat, in dem rund vier Millionen Menschen leben – bei einer Gesamtbevölkerung Israels von acht Millionen. Die animierte Stimmung in diesem Brutofen ist legendär (und so sind die Wohnungspreise: wofür man andernorts in Israel ein Haus mit Garten bekommt, reicht hier gerade für eine enge Zweizimmerwohnung), Zehntausende, vor allem junge Menschen aus aller Welt zieht es dorthin, ins Tag und Nacht laufende Wunderwerk aus Amüsement, harter Arbeit, Kreativität und weltweiten Geschäften.

Marko Martin kennt die Stadt gut und preist ihre Plätze, Parks und Straßen, wie hier die Allenby Street, in Bildern von inspiriertem Scharfblick: „Oh wundersam schäbige Allenby, einst erste Prachtstraße des dem Wüstensand abgerungenen Tel Aviv, mit deinen Seitenstraßen, die an die Poeten aus den dunklen Wäldern des Zarenreichs erinnern: Bialyk, Tchernichovsky, Pinsker … Allenby, mit deinen im billig-bunten Neonlicht gleißenden und von Arabern oder sephardischen Juden geführten Zigaretten- und Imbissläden, dem äthiopischen und dem chinesischen Einwanderer-Restaurant, den vierschrötigen Russen-Bodyguards vor den Tabledance-Bars …“

Marko Martins Stärke ist die konzentrierte Wahrnehmung, das sinnliche Gedächtnis, die Fähigkeit, aus der Bewegung heraus, im Vorübergehen, schnelle, treffende Skizzen zu zeichnen. Seine Schwäche ist eine Neigung zu Formeln, Verdikten, moralisierenden Adjektiven, manchmal bis zur Intonation eines Laienpredigers. Tel Aviv ist ihm mehr als eine Stadt: Lebensprogramm, Bekenntnis, Religion. Gegen jüdische Lebenswelten, die er nicht versteht, wird er unversehens polemisch. Doch selbst im Klischee verbirgt sich bei ihm manche treffende Charakteristik der schwer zu fassenden Stadt. Etwa Tel Aviv als „Konzentrat aus Musik und Debatte, Lifestyle und Reflexion, Alltag, Weltpolitik und Geschichte“.

Hinter der Kulisse der neuen Hochhausstadt spürt Marko Martin die uralten Geschichten, mit der die Sanddünen des antiken Landes Judäa imprägniert sind, er sucht ihre Spuren und findet sie vor allem in der Literatur. Seine Belesenheit reicht weit, von antiken Quellen wie Josephus Flavius bis zu den neuesten israelischen Romanen. Hier macht er sich die Mühe, genau zu recherchieren, besucht die Autoren, sofern sie noch leben, führt lange Gespräche mit ihnen, untersucht ihre oft bestürzenden Biografien und ihre literarischen Texte.

Die verschlungenen Wege und kulturellen Hintergründe der älteren und alten Schriftsteller, an die Martin erinnert, darunter des 90-jährigen Manfred Winkler aus der Bukowina, der in Deutschland populären Krimiautorin Batya Gur, des Moskauer Samisdat-Literaten Mikhail Grobman oder der weltgewandten Roman-Schriftstellerin Shulamit Lapid, könnten verschiedener nicht sein, auch die der jungen, in Israel geborenen Autoren Etgar Keret, Nir Baram oder Ron Leshem, auf die andere Herausforderungen zukamen: Armeedienst, frühe Begegnung mit Tod und Tragödie, Alltagsprobleme in einem kleinen, komplizierten, umstrittenen Land.

Hier liegt das eigentliche Verdienst des Buchs: Es gibt einen Überblick über die israelische Literatur unserer Tage, eigentlich viele Literaturen, die sich kaum berühren, in verschiedenen Sprachen, aus verschiedenen Herkunftsländern. Israel ist ein Einwandererland, multikulturell bis zur Unbegreiflichkeit, heterogen bis an die Grenze des Erträglichen. Dieses Buch ist ein ehrlicher Versuch, sich Israel, wie es heute ist, auszusetzen. Klarheit über ein Land zu gewinnen, dessen Darstellung in deutschen Medien oft simplifiziert und verzerrt wird. Seine genaue Recherche ist das Gegenstück zur Arroganz anderer deutscher Journalisten, etwa Jakob Augsteins, der Israel seit Jahren attackiert, ohne es zu kennen, ohne es je besucht zu haben.

Marko Martin: „Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt“. Wehrhahn Verlag, Hannover 2013, 224 Seiten, 19,80 Euro