Gut erzählter Schock

Morgen beginnt das Freud-Jahr 2006. Wie aktuell sind die Lehren – und Provokationen – Sigmund Freuds heute? Auftakt einer taz.mag-Reihe

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Als vor hundert Jahren Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ erschienen, war der Skandal vorprogrammiert. Sein Blick auf das menschliche Sexualleben wurde zum Inbegriff des Schocks, der zu Recht als Signum der Moderne bezeichnet worden ist. Denn Freuds kleine Schrift führte den Nachweis, dass inmitten unserer Zivilisiertheit und kulturellen „Normalität“ ein unkultiviertes, vielleicht sogar unkultivierbares Antriebs- und Verhaltenspotenzial liegt; dass zum Sexuellen die vermeintliche Abweichung von der Normalität gehört und die selbstgewisse Unterscheidung von männlich und weiblich, von hetero- und homosexueller Objektwahl so wie die Verleugnung infantiler Sexualität nichts als konformistische Beschwörungsformeln einer scheinheiligen Gesellschaft sind. Dass menschliche Sexualität nichts „Biologisches“, nichts nach irgendeinem Schöpfungsplan oder einer physiologischen Blaupause Feststehendes und Programmiertes ist, sondern etwas, was jedem Einzelnen sozial eingeschrieben wird.

Das war ein ungeheuerlicher Bombenwurf ins bürgerliche Bewusstsein. Mittlerweile haben wir uns nicht nur an den sexuellen Skandal gewöhnt, sondern – nach den Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts – auch an sein aggressives Pendant. De facto ist die Psychoanalyse heute vom Skandal ähnlich weit entfernt wie ein entblößter Busen auf einer Hauptstadtbühne. Sie ist gottlob längst Teil der kulturellen Normalität geworden, und Adornos berühmtes Statement „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen“ zum partytauglichen Aperçu verkümmert.

Dabei wäre es als erkenntnistheoretische Reflexion ernst zu nehmen: So wie man von der Ausnahme auf die Regel schließen kann, sind es die – realen – „Übertreibungen“ der menschlichen Konstitution, die unterm vergrößernden Blick, der den Skandal nicht scheut, zu umwälzenden Erkenntnissen der menschlichen Natur führen. Nichts weniger ist mit dem Aphorismus gemeint. Ihn zu verstehen sind freilich am wenigsten jene Psychoanalytiker imstande, die darin nur die Bestätigung ihres Selbstbildes als Angehörige einer bedrohten Art sehen. Die etablierte Psychoanalyse fürchtet Freuds „Übertreibungen“; sie rühren an eine der Urängste der immer noch jungen Disziplin: die Angst, von den „Normalwissenschaften“ ausgegrenzt zu werden.

Der inbrünstige Wunsch nach „Normalität“ fällt dann leicht auf die eigenen Ursprünge zurück und nagt an den Wurzeln, die einmal im verwilderten Garten der Lust lagen. „Zu randständig wird das Thema Sexualität heute noch in den meisten psychotherapeutischen Ausbildungen und Fachspezifika positioniert, zu sehr gelten Sexualität und sexuelle Symptome nach wie vor als Spezialprobleme, die von SpezialistInnen behandelt werden sollen, anstatt sie als Teil und Ausdruck allgemeiner menschlicher Entwicklungsproblematik zu verstehen.“ So der Analytiker Josef Christian Aigner im Eröffnungsbeitrag eines Bandes, der versucht, die liegen gelassene Diskussion wieder aufzunehmen.

Tatsächlich, manchmal wirkt es so, als schaudere die Psychoanalyse in ihrem legitimen Bemühen um „Anschlussfähigkeit“ heute so vor den Abgründen ihres Initialschocks zurück wie die Bürger um 1900. Das geht bis in die theoretische Konstruktion der Wirklichkeit. „Zurzeit dominieren die wohlerzogenen Kinder der Psychoanalyse wie das Modell des kompetenten Kleinkindes und die Bindungstheorie, die sich empirisch kontrollieren und mit Videokameras überwachen lassen; die Schmuddelkinder mit ihren heimlichen sexuellen Fantasien und Sehnsüchten, mit ihren sexuellen Rivalitäten und Rangeleien bleiben in vielen psychoanalytischen Theorien gegenwärtig eher außen vor.“ So Wolfgang Mertens im selben Band.

Die Beobachtung hat mehr als nur wissenschaftshistorischen Stellenwert. Sexualität, das ist bei Freud nicht nur buchstäblich der Stoff, aus dem die Träume sind, sondern der archimedische Punkt, von dem aus er die überkommenen Vorstellungen der Sexualmoral und des Menschenbilds aus den Angeln heben konnte. Das skandalträchtige Terrain der frühkindlichen Sexualität, der Abirrungen und Perversionen war für den Begründer der Psychoanalyse gewissermaßen der „Außenposten“, der notwendig ist, um die „kulturelle Normalität“, der niemand entgeht, wenigstens so weit in Klammern zu setzen, dass man sie wie von außen betrachten konnte. Als Freud sich, zwei Jahrzehnte nach den „Abhandlungen“, Gedanken darüber macht, wie psychoanalytische Erkenntnis zum Verständnis der Gesellschaft genutzt werden könnte, notiert er: „Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt.“ Sein Begriff der Sexualität war in der Frühphase der Psychoanalyse gewissermaßen der Statthalter jener exzentrischen Position, die Erkenntnisse über die eigene Kultur ermöglicht.

Dass Freud in seinem Bemühen, die Wände des kulturellen Gefängnisses einzureißen, nicht immer konsequent war, thematisiert Stefan Etgeton, wenn er konstatiert, dass „das 20. Jahrhundert den Text der Abhandlungen ausgezehrt“ habe: „Die Idee von der reifen, erwachsenen Sexualität bleibt eine Fiktion – und nicht einmal eine nützliche“: In diesem „transzendentalen Postulat“ seiner Sexualtheorie zeige sich die bürgerliche Erdung des Revolutionärs Freud. Die Leser des Textes fühlten sich „bei den Schilderungen des ‚Perversen‘ besser verstanden, oftmals gar ertappt; sie erkennen sich selbst heute wie vor hundert Jahren nicht im ‚Normalen‘, sondern im ‚Perversen‘ wieder.“

Ohnehin ist fraglich, ob es tatsächlich die so genannten klinischen Befunde sind, die die „Drei Abhandlungen“ zu einem Epochenwerk machen. Martin Dannecker, Polyhistor der Sexualwissenschaft und einer der Herausgeber des Bandes, weist in seinem Beitrag nach, dass der sonst für seine Gründlichkeit bekannte Freud in diesem Fall vorliegende sexualkundliche Erkenntnisse schlicht ignoriert. Und Sven Lewandowski sieht Freuds eigentliche Leistung „nicht so sehr in seinen Entdeckungen, sondern in dem radikalen Wechsel der Perspektiven, den er vornimmt, obwohl sein Material einen solchen nicht erzwingt. Das Normale, das sich Freud – inkonsequenterweise – als heterosexuell vorstellt, ist ebenso wie das Abweichende eine psychische (und soziale) Konstruktionsleistung.“

Was dieser „Konstruktivismus“ materiell bedeutet, zeigt Ilka Quindeau, Herausgeberin eines anderen aktuellen Freud-Bandes, mit Rekurs auf Freuds Konzept der „erogenen Zonen“. Die Vorstellung, dass dem Körper eines Neugeborenen „das Streben nach Lust und Befriedigung gleichsam eingeschrieben wird“, ermögliche den Perspektivenwechsel von der biologisch begründeten zur „Psychosexualität“: „Die erogenen Zonen bilden sich somit durch die sexuelle Aktivität, durch die Erfahrung von Lust und Befriedigung, die ihren Ausgang bei den Pflegehandlungen der Erwachsenen nimmt. Sie sind Spuren der Erinnerung an frühere Befriedigungen.“ Demzufolge ist Sexualität niemals biologisches Datum, sondern Faktum, im Wortsinn: „Hergestelltes“, und deshalb ist auch ihr Wesen mit der Konzeptualisierung „reifen“ Gebrauchs der Geschlechtskraft zum Zweck der Fortpflanzung nicht zur Deckung zu bringen.

Ganz auf dieser Linie erinnert der Zürcher Psychoanalytiker Peter Passett daran, dass Freud in den „Abhandlungen“ nicht nur die von Dannecker betonte prinzipielle Bisexualität des Menschen ins Zentrum rückt, sondern „das Infantile, Unfertige als einen Wesenszug der menschlichen Sexualität“ überhaupt bestimmt. Die Konstitution der menschlichen Sexualität durch Einwirkung „des Anderen“ in der infantilen Situation geht auch in ihrer erwachsenen Form nicht unter. An diesem entscheidenden Punkt sei Freud der Konsequenz seines Denkens nicht gewachsen: „Obwohl seiner unbestechlichen Beobachtung die Bedeutung des Anderen in der Genese der Sexualität und damit der menschlichen Psyche nicht entgangen war, versäumte er es, diesem Anderen in seiner Theorie den ihm gebührenden fundamentalen Platz zuzuweisen.“

Zweierlei fällt an dieser neu entfachten Diskussion auf. Zum einen: Die interessantesten Perspektiven ergeben sich aus jenen „freudkritischen“ Beobachtungen, die versuchen, mit ihrer Kritik die inwendigen „Übertreibungen“ der analytischen Theorie noch einmal hervorzulocken. Zum anderen: Es ist erstaunlich, wie der nun hundert Jahre alte Text trotz allem standhält – sowohl den Kritikern als auch jenen Forschern, die versuchen, aus dem ehrwürdigen theoretischen Bergwerk Neues ans Licht zu bringen. Es gibt tatsächlich immer noch Schätze zu heben, ohne dass die alten Stollen einbrechen. Teils solche, an die Freud gar nicht hat denken können. Zum Beispiel John Gagnons Beobachtung, dass die im angloamerikanischen Raum verbreitete Sichtweise, Freud „weniger als Wissenschaftler denn als literarischen Essayisten“ zu begreifen, auch zu neuen Lesarten seiner Texte führen werde. Was bleibt von einem Freud, der unter ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt wird? Henning Bech fasst es kategorisch knapp: „Bewertet man die psychoanalytischen Erzählungen nach dem Qualitätskriterium der puren Ästhetik, dann fallen sie durch. Sie sind einfach zu langweilig.“

Darüber wäre zu streiten. In der Nachschrift zu seiner „Selbstdarstellung“ aus dem Jahr 1935 hat Freud sich selbst als einen Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten und literarischen Formen charakterisiert: Nach 1923 habe er „keine entscheidenden Beiträge mehr zur Psychoanalyse geliefert“ – eine seltsame Selbststilisierung angesichts der übervollen Produktivität der letzten 15 Jahre seines Lebens, die die psychoanalytische Kulturtheorie zur Blüte bringt. „Und was ich später geschrieben habe, hätte schadlos wegbleiben können oder wäre bald von anderer Seite beigebracht worden. Dies hing mit einer Wandlung bei mir zusammen, mit einem Stück regressiver Entwicklung, wenn man es so nennen will. Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten.“

Das sagt derselbe Freud, der sich als junger Mann ein „Konquistadorentemperament“ bescheinigte und mit Verwunderung feststellte, dass die Fallgeschichten, die er niederschrieb, sich nicht wie wissenschaftliche Abhandlungen, sondern wie „Novellen“ ausnahmen. Diesen literarischen Überschuss hat Freud nicht nur nie verleugnet, sondern als eigentümliche Quelle seiner Produktivität begriffen. Jede gute Analyse ist auch eine „gute Geschichte“.

Gute Geschichten müssen nicht in erster Linie die Wirklichkeit ‚widerspiegeln‘ oder deren Wesen und Oberflächenerscheinungen repräsentieren. Vielmehr weisen sie Horizonte auf, die helfen können, Veränderungen zum Besseren hervorzubringen.“ So wiederum Henning Bech, der an der aktuellen Sprengkraft freudianischer „Geschichten“ zweifelt. Vielleicht, weil sie hundert Jahre nach dem initialen Skandal bei ihren heutigen Erzählern nicht mehr die Kraft der Übertreibung mobilisieren können, aus der einst die eigentümliche Produktivität des psychoanalytischen Denkens hervorging. Es wäre nicht die kleinste Aufgabe der Psychoanalyse, sich dieses Ursprungs wieder zu erinnern. Sie würde dann ganz von selbst auf die untergründig bewegende Kraft der Sexualtheorie stoßen, die momentan nicht recht ins Programm des psychoanalytischen Kampfs um Anpassung an die akademische Normalität zu passen scheint.

CHRISTIAN SCHNEIDER, 54, Psychoanalytiker und Soziologe, lebt in Frankfurt am MainLiteratur: Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Fischer Verlag, 160 Seiten, 8,90 Euro. 100 Jahre Freuds ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‘. Aktualität und Anspruch. Herausgegeben von Martin Dannecker und Agnes Katzenbach, Psychosozial-Verlag 2005, 173 Seiten, 19,90 Euro. Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Herausgegeben von Ilka Quindeau und Volkmar Sigusch, Campus Verlag 2005, 210 Seiten, 19,90 Euro