ausgehen und rumstehen
: Bloß nicht gleich wieder die Wolken von morgen vor die Sonne von heute ziehen

Freitag.Heute bekomme ich den letzten Besuch im alten Jahr: Freund U. aus Köln will morgen mit seinem Bruder dessen Hochzeit nachfeiern und ist einen Tag früher angereist. Er hat vor kurzem einen Job vermittelt bekommen, bei dem er andere an Computern sitzende schwer Vermittelbare ruhig stellen muss. Wie bei allen Pflichtverliebten färbt auch bei ihm die Arbeit aufs Private ab. „Können Sie das bitte in der bildschirmfreien Zeit besprechen?“, fragt er die tuschelnden Kneipenbesucher, die staunend folgen. Am Nebentisch sitzen die Musikerinnen der Gruppe Britta, die sich für die Beendigung der Dreharbeiten zu ihrer neuen Platte mit reichlich Schaumwein belohnen. Auch wir kriegen was ab. Schnell stellt sich die Frage, ob man sich für morgen aufsparen oder dem Stechen der Messer gehorchen soll. „Sich sorgen heißt, die Wolken von morgen vor die Sonne von heute ziehen“, sage ich, beziehungsweise: „Vielleicht wird es ja morgen total Scheiße, und dann werden wir es bitter bereuen, uns nicht heute schon total abgeschossen zu haben.“ Letzte innere Einwände gegen diese Theorie – speziell gegen den sich im Falle ihrer Anwendung selbst verifizierenden ersten Teil – werden runtergespült. „Warum ist dein Freund eigentlich so betrunken? Er trinkt doch nur Cola.“ – „Wegen dem vielen Averna in der Cola.“ Das ist der letzte mir erinnerliche Dialog des Abends.Samstag.„Ich will mit keinem reden, und ich will nicht ins Café /Alles, was draußen liegt, tut weh“, singen Britta, und auch der Skispringer Jens Weißflog hat gesagt, man kann immer nur so weit springen, wie man im Kopf schon ist. Wir müssten also, streng genommen, zu Hause bleiben. Aber die Lunten der Tischfeuerwerke brennen, und man hat ja schließlich auch eine gewisse Verantwortung sich selbst und den Menschen gegenüber. Also versuchen wir, uns wieder hochzubringen. Medikamente sind immer noch die beste Medizin, am besten in Verbindung mit Durchhalteparolen und Tanzfilmen.

Die Hochzeit unterscheidet sich in nichts von einer gewöhnlichen Party. Ungewöhnlich ist nur die Anwesenheit von Kindern, mit denen U. um die Hoheit über die Anlage ringt. Am Anfang ist es eine ausgeglichene Party, doch nach hinten raus hat U. deutliche Vorteile, sodass die Kinder kurz nach zwölf schlafen gehen. Ihr Vater ist Psychiater. Ich nutze die Chance und schildere meine Symptome. Er meint, ich habe nichts; oder nichts, was nicht mit ein paar Elektroschocks zu beheben wäre. Erfreulich. Dann wird eine Stunde lang telefoniert, denn mein Freundeskreis ist so föderalistisch organisiert, dass man kaum mal zwei auf der gleichen Party erwischt.

Freundin J. bestellt mich in Ben Beckers Trompete zu einer obskuren geschlossenen Gesellschaft. Ich versuche mich dort beliebt zu machen, indem ich alle Anwesenden unter zärtlichen Küssen segne, was mir spätestens in der dritten Runde mehr Ekel als Gegenliebe einbringt. Immerhin ein Psychopath attestiert mir, ich sei „sehr intensiv“. Einen Sonnenaufgang später sitzen wir in der Bahn. „Was ist?“, fragt J. „Ist dir schlecht?“ – „Nein, mir fiel nur gerade ein, dass ich vor ein paar Tagen Geburtstag hatte.“

Ich bin dreißig. Vor mir liegt weit und drohend ein neues Jahrzehnt meines Lebens. Dreißig – das bedeutet ein Jahrzent der Einsamkeit, bedeutet, dass die Männerfreundschaften dünner gesät sind, dass das Portefeuille der freudigen Erwartungen und das Haar auf dem Kopf dünner werden. So fahren wir durch die Morgendämmerung dem Tod entgegen. (Wer weiß, wo der letzte Absatz abgeschrieben ist, kann an jens@jens-friebe.de schreiben und einen von mir noch zu bestimmenden Gegenstand gewinnen.) JENS FRIEBE