Wer nicht da ist, kann nicht stören

Der tägliche Kampf ums Weiterkommen am Schulzentrum Grenzstraße. Manche haben zwar ihr Handy dabei, aber keinen Kugelschreiber. Die Lehrkräfte können sich nach eigener Einschätzung entscheiden: Zwischen Resignation und Verzweiflung

„Sie waren immer die Loser, die nun nicht mal einen Ausbildungsplatz bekamen“, sagt der Schulleiter Werner Fabisch. „Es sind die übrig Gebliebenen.“

Bremen taz ■ Wofür steht eigentlich SPD? Kader Loth, das aufgeblasene Nichts der TV-Trash-Unterhaltung (“Die Alm“), übersetzte das Kürzel einst mit „Sozialdemokratische Union Deutschland“. Warum auch nicht? Ob man nun Union vorne mit „P“ schreibt, wer weiß das schon so genau? So manch Bremer Schüler, manche Schülerin ganz offensichtlich nicht. Sie haben ähnlich kreative Lösungen auf Lager, selbst mit erweitertem Hauptschulabschluss. Diese Erfahrung hat zumindest Klaus-Peter Kehl gemacht. Und er muss es eigentlich wissen.

Donnerstag morgen, Schulzentrum Grenzstraße. „Wirtschaftliches Handeln“ steht auf dem Stundenplan der Klasse der einjährigen Handelsschule. Das Thema ist Eigentumsvorbehalt, kein leichter Begriff. Die meisten wissen, es geht irgendwie um den feinen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz. „Ich habe etwas nicht bezahlt, nehme es aber trotzdem mit. Was dann?“, fragt Kehl. „Hm.“ Der Lehrer hakt nach: „Was ist denn ein Vorbehalt?“ Bald darauf gibt er sich selbst die Antwort. „Ich sage: aber.“ Am Ende der Stunde weiß die Klasse dann doch, dass Eigentumsvorbehalt sich anhört wie: „Die Ware bleibt bis zur vollständigen Bezahlung...“ – oder so ähnlich.

Klaus-Peter Kehl ist nicht nur Lehrer, er ist auch Bildungsgangleiter an der Grenzstraße. Kein Job, um den man ihn beneiden müsste, dieser Eindruck drängt sich auf. „In den 70ern“, sagt er, „da war in Bremens Schulen Aufbruchstimmung.“ Doch das sei längst vorbei. Der jüngste Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer offenbarte: 38 Prozent der Jugendlichen verlassen das Bremer Schulsystem heute auf dem Kompetenzstand von Grundschülern – und Kehl hat den Eindruck, sie alle zu kennen. „Die Abschlüsse spiegeln oft einen Leistungsstand vor, der den Ansprüchen niemals genügt“, sagt er. „Da können beispielsweise 80 Prozent ohne Taschenrechner nicht teilen.“

Lesen, Schreiben, die Grundrechenarten, all das blieb offenbar bei vielen in der Hauptschule auf der Strecke. „Ich stelle mir schon die Frage: Wie kamen die bislang durch?“, sagt Werner Fabisch, Leiter des Schulzentrums Grenzstraße. Doch zu Defiziten im kognitiven Bereich kämen häufig noch solche im Sozialverhalten. „Manche Mädchen haben zwar Handy und Lippenstift in der Handtasche, aber nicht mal einen Kugelschreiber dabei. Wie stellen die sich denn Unterricht vor?“, fragt sich Fabisch. Richtig problematisch wird es aber, und da ist er sich mit Kehl einig, wenn noch verbale oder gar körperliche Aggression hinzukommt. Alles schon da gewesen.

Sicherlich, sagen die Pädagogen, man rede hier noch immer von der Minderheit. Aber: „Früher hatten wir zwei solche Fälle in der Klasse, heute sind es sechs oder sieben“, betont Lehrer Kehl. Oft sind es Jugendliche mit Migrationshintergrund, aus sozial schwachem Milieu, schulmüde häufig. Auf ihren bisherigen Lebensweg hatten sie so gut wie keinen Einfluss. „Sie waren immer die Loser, die nun nicht mal einen Ausbildungsplatz bekamen“, sagt Schulleiter Fabisch. „Es sind die übrig Gebliebenen.“

Nun soll die einjährige Handelsschule sie eigentlich zur Mittleren Reife führen, früher hatte man dafür zwei Jahre Zeit. Wer ohne erweiterten Hauptschulabschluss an die Grenzstraße kommt, soll diesen zunächst in der Berufsfachschule Wirtschaft nachholen. Ebenfalls innerhalb eines Jahres, von dem durch Ferien und Prüfungszeit faktisch nicht einmal neun Monate bleiben. Das sei einfach nicht zu machen, klagt Klaus-Peter Kehl. Da wisse der eine nicht was „unterbreiten“ bedeute, der andere nicht, was mit „veräußern“ gemeint sei. „Und jetzt integrieren sie mal.“ Was nach Fatalismus klingt, ist durchaus ernst gemeint. Für Kehl haben die Lehrkräfte nur zwei Möglichkeiten: „Entweder sie resignieren oder sie verzweifeln.“

An Koleta, 19, und Daniel, 17, von der Handelsschule wird er dabei eher nicht denken. Die beiden wirken motiviert, mit klarem Blick für die Realitäten. „Kein Bock, das können wir uns nicht mehr erlauben“, sagt Koleta, gebürtige Polin, und wirkt dabei überzeugend. „Wenn man sieht, was in Frankreich abgeht, da wollen wir nicht enden.“ Nun hoffen die beiden, ihre Chance zu bekommen. Ja, sie glauben daran. „Wenn wir uns von den anderen abheben.“ Das wird ihnen immer wieder gesagt. Schon jetzt sind sie in einem ständigen Konkurrenzkampf.

Doch die Konzentration leidet. Immer wieder. Da seien 20 Prozent, die nur hier wären, weil sie nichts anderes gekriegt hätten, schätzt Daniel. „Die machen allen anderen das Weiterkommen schwer.“ Koleta spricht von Machtspielchen. Schon wenn der Lehrer reinkomme, werde provoziert. Erst wird der Lehrer lauter, dann der Schüler, bis letztlich alles eskaliert. Daniel glaubt, dass solchen Mitschülern „alles am Arsch vorbei geht“. 30 Fehltage bereits im Dezember, das sei nichts besonderes für die.

Wer nicht da ist, kann aber wenigstens nicht stören. Ein schwacher Trost für die Lernwilligen, dabei hat die Schule doch schon die Zugangshürden erhöht. Ein verpflichtender Eingangstest plus Beratungsgespräch schreckte in diesem Schuljahr schon 80 von ursprünglich 400 BewerberInnen ab, sie sind gar nicht erst erschienen. Dabei könne man überhaupt nicht durchfallen, betont Schulleiter Fabisch. Die Maßnahme soll einfach den Stellenwert des Schulganges erhöhen, sagt er. „Das soll eine bewusste Entscheidung sein, eine mit Ernsthaftigkeit.“

Wie ernst es dem Land Bremen mit der Vorbereitung seiner Jugend aufs Leben ist, das weiß Lehrer Kehl dagegen nicht so recht. Er würde gerne mal mit seiner Klasse Pizza essen gehen oder ins Kino. Das hält er für extrem wichtig, „da kriege ich sie“. Doch der überstraffe Lehrplan, Dokumentations- und Präsenzpflichten, die schlichte Überlastung, halten ihn meist davon ab. Auch Schulleiter Fabisch ist überzeugt, dass es nichts bringt, Schulen mit Computern vollzustopfen, wenn es schlicht am Personal mangelt. Man brauche Sozialarbeiter, Freizeiteinrichtungen, gerade jetzt, „da jedes gesellschaftliche Problem zur Heilung an die Schule verwiesen wird“. Dass die SchülerInnen mit völlig überzogenen Erwartungen an die Grenzstraße kommen, überrascht Werner Fabisch indes nicht – und lässt ihn doch staunen. „Da kommt einer mit einer fünf in Mathe und will Bankkaufmann werden, das ist zum Teil schon phänomenal.“

Koletas und Daniels Ziele sind realistischer. Sie möchte Werbekauffrau werden, er denkt an Fitness- und Sportkaufmann. Koleta wäre bereit, für die Ausbildung sogar nach Hamburg oder Hannover zu ziehen. Daniel, mit 17 schon bei der HSG Delmenhorst Handball-Regionalligaspieler, erzählt vom Lernen in Kleingruppen bei der Prüfungsvorbereitung, „weil doch jeder seine Stärken hat“. Bei soviel Ernsthaftigkeit und Engagement dürften Vorstellungsgespräche für diese beiden hoffentlich auch 2006 ein Selbstläufer sein – und die Frage nach der SPD dabei die leichteste Übung. Achim Graf