Der Schmu der Scharlatane

Vom Überleben in der Krise

VON JENS BERGER

Die letzten Tage waren eine Katastrophe für die Fiskalzuchtmeister Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Zunächst erteilten bei einem G-20-Treffen die Vertreter der neunzehn anderen Staaten der von Deutschland so geliebten Sparpolitik eine eiskalte Absage, dann beschloss unser finanzpolitischer Verbündeter Holland, Etatkürzungen auszusetzen.

Und schließlich erteilte auch noch der als Opportunist verschriene EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso der rigorosen Sparpolitik eine Absage. Kann es schlimmer kommen? Aber natürlich. Ökonomen der University of Massachusetts entdeckten in der Studie „Wachstum in der Zeiten der Verschuldung“ der Harvard-Ökonomen Reinhart und Rogoff, dass die Ergebnisse dieser Untersuchung, sagen wir es freundlich, wissenschaftlich nicht haltbar sind.

Bereits im Januar hatte der IWF zähneknirschend eingestanden, dass er bei der Berechnung der sogenannten Fiskalmultiplikatoren, freundlich gesagt, grob danebenlag. Doch nun ist auch der letzte Pfeiler im (pseudo)wissenschaftlichen Unterbau der „Austeritätsdogmas“ zerbröselt, Merkel und Schäuble weltweit blamiert.

In ihrer Studie hatten Reinhart und Rogoff versucht, eine Korrelation zwischen hoher Staatsverschuldung und schleppender Konjunktur zu belegen. Dabei kam heraus, was Sparkommissare als „goldene Schuldenregel“ bezeichnen: Ab einer Staatsschuldenquote von 90 Prozent weigert sich die Wirtschaft, weiter zu wachsen. Als gäbe es da einen kausalen Zusammenhang, der streng geheim ist und den niemand erklären kann. Eine „wirtschaftswissenschaftliche“ Studie kann offenbar noch so sinnfrei sein – solange die „richtigen“ Ergebnisse“ dabei herauskommen, wird jeder Unfug von Politikern und Leitartiklern nachgeplappert.

Aus der Korrelation den kausalen Schluss zu ziehen, die Staatsschuldenquote würde ab einer magischen, klar zu beziffernden Grenze das Wirtschaftswachstum bremsen, ist schon reichlich albern. Bei der Staatsschuldenquote steht die Staatsverschuldung im Zähler und das BIP im Nenner. Sinkt das BIP, steigt also die Staatsschuldenquote automatisch. Doch offenbar verstehen viele Austeritätspolitiker nicht einmal simpelste Zusammenhänge.

■ ist freier Journalist und Wirtschaftsexperte. Als Redakteur der „NachDenkSeiten“ und Herausgeber des Blogs „Spiegelfechter“ schreibt er zu sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Themen. Im Februar hat er das Buch „Stresstest Deutschland: Wie gut sind wir wirklich?“ veröffentlicht.

■ An dieser Stelle wechseln sich jede Woche unter anderem ab: Gesine Schwan, Rudolf Hickel, Niko Paech und Sabine Reiner.

Wie die Überprüfung der Studie ergab, gibt es – welch Wunder – keine „goldene Schuldenregel“. Stattdessen waren die Daten manipuliert. Verkürzt heißt dies, dass die „goldene Schuldenregel“ sich vor allem auf Daten einer einjährigen Krise in Neuseeland aus dem Jahre 1951 stützt. Hätten Reinhart und Rogoff die Daten korrekt ausgewertet und nur das letzte Jahrzehnt herangezogen, wären sie zu dem Ergebnis gekommen, dass Staaten mit einer hohen Staatsverschuldung ein höheres Wirtschaftswachstum vorweisen. Auch hier verbietet sich jedoch jegliche Vermischung von Korrelation und Kausalität. Dies ist weit mehr als eine „Excel-Panne“. Reinhart und Rogoff sind moderne Scharlatane, deren Schmu nicht nur im Kanzleramt auf fruchtbaren Boden fiel. Warum aber fallen Politiker immer wieder auf pseudowissenschaftlichen Hokuspokus aus der neoliberalen Ecke herein? Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen besonders hartnäckigen Fall von fast religiöser Verblendung handelt. Gläubigen kann man nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kommen. Da kann sich Deutschland weltweit noch so lächerlich machen. Und schon bald – da können wir uns sicher sein – wird es bereits die nächste „Studie“ geben, die belegen soll, was rational nicht belegbar ist. Die unbefleckte Empfängnis von heute ist die These, nach der man durch Etatkürzungen die Wirtschaft ankurbeln kann. Das wäre fast alles zum Lachen – müssten nicht Millionen Menschen wegen dieses Glaubenssatzes leiden.