„Verwundbarkeit ist wichtig“

Liebe, kulturelle Hintergründe und Überwachungskameras: Ein Gespräch mit der britischen Regisseurin Sally Potter über ihren neuen Film „Yes“, das Denken in Versen und die Folgen der traumatischen Endlosschleifen nach dem 11. September 2001

INTERVIEW NICOLE HESS

taz: Frau Potter, ohne dass in Ihrem Film der 11. September 2001 je erwähnt würde, ist das Ereignis atmosphärisch präsent. Wie ist Ihr Film entstanden?

Sally Potter: Ich begann am 12. September 2001 mit dem Schreiben. Ich spürte die Notwendigkeit, der sich verschlimmernden Situation etwas Positives entgegenzuhalten. Um gegen die Klischees und Stereotypen vorzugehen, die Bushs „Achse des Bösen“ benützt, kann man den „Feind“ als ein menschliches Wesen mit Leiden, Schwächen und Verwundbarkeiten zeigen, nur in einem anderen kulturellen Kontext. Mein Film sollte kein Pamphlet sein, sondern in die Gegenrichtung der Angst und des Hasses laufen, die die Stimmung prägten. Instinktiv hatte ich das Gefühl, es müsste eine Liebesgeschichte sein.

Sie erzählen diese Geschichte ohne jede Naivität. Das hängt unter anderem mit der wunderbaren Figur der Putzfrau zusammen, die das Geschehen kommentiert. Wie haben Sie diese Figur gefunden?

Vielleicht hat sie mich gefunden. Beim Schreiben floss sie mir nur so aus der Feder. Putzfrauen stehen in jeder Gesellschaft ganz unten auf der sozialen Leiter. Sie bewegen sich wie Geister unter uns. Wir nehmen sie nicht wahr. Die Menschen, die im Restaurant die Tische putzen, den Boden fegen, mit dem Staubsauger den Flughafen reinigen, bilden eine Art unsichtbare Armee. Wenn Sie je als Putzfrau gejobbt haben, wissen Sie, dass sie die geheimen Zeugen des Lebens sind. Die Unsichtbarkeit versetzt sie – das ist seltsam genug – in eine privilegierte Situation.

Nun hat diese Putzfrau im Kontext der Erzählung eine ganz bestimmte Funktion. Ist sie eine philosophische Kommentatorin?

Sie übernimmt die Funktion eines griechischen Chors. Sie ist eine Mittlerfigur zwischen den Göttern und dem Publikum. Die Putzfrau merkt, dass ein Film gedreht wird und wir – das Publikum – hier sind, während die übrigen Schauspieler vorgeben, wir seien nicht da. Sie bricht die Illusion und steht für die Wahrheit. Mit ihrer Ironie sorgt sie zudem für Entspannung.

Die Figur spricht direkt in die Kamera. In andern Szenen filmen Sie aus der Perspektive der Überwachungskamera. Hat die Art, wie der 11. September 2001 dokumentiert wurde – Stichwort Endlosschleifen – Ihre Arbeit als Filmregisseurin beeinflusst?

Es gab die Loops, in denen die Attacken auf das World Trade Center wiedergegeben wurden. Genauso funktionieren auch traumatische Erinnerungen. Noch wichtiger sind jedoch die Konsequenzen. Seit dem US-amerikanischen Patriot Act ist die zivile Freiheit erodiert, hat die Überwachung unglaublich zugenommen. In England sind heute proportional mehr Überwachungskameras installiert als irgendwo sonst. Statistiken zufolge wird in London jeder Mensch 350 Mal pro Woche fotografiert. Das heißt, Big Brother ist Realität geworden, und zwar um einiges schlimmer, als es sich George Orwell vorgestellt hatte.

Sie bilden in „Yes“ die neue Realität ab?

Ich wollte sie als Frage anbringen: Wer beobachtet wen? Die Putzfrau schaut uns an, wir schauen ihr zu, wie sie uns anschaut. Die Videokamera beobachtet die Figuren, wir beobachten, ebenfalls durch eine Kamera, das ganze Geschehen. Das heißt, ob man sieht oder gesehen wird und was man sieht, ist zunehmend unklar. Der eigene Standpunkt wird brüchig. Die Wissenschaftlerin nimmt den Gedanken zu Beginn des Films in ihrem Referat auf, wenn sie sagt: Vielleicht ist Objektivität auch nur eine Perspektive.

Als Ihr Film fertig war, wurde London letzten Sommer durch die Anschläge erschüttert. Wie wirkt sich dies auf das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in England aus?

Es war unausweichlich, dass die Spannungen zunahmen. Rassistische Übergriffe sind häufiger geworden, die Muslime gelten in weiten Teilen der Bevölkerung als der Feind schlechthin. Es gab aber auch ein paar gute öffentliche Foren und herausragende Zeitungsartikel, die der Thematik in ihrer Komplexität Raum gaben. Zudem ist innerhalb der muslimischen Gemeinschaften das Gespräch in Gang gekommen über ihre Identität in der britischen Gesellschaft, ihre Beziehung zu den eigenen extremistischen und fundamentalistischen Gruppen. Die Lernkurve scheint auf allen Seiten steil nach oben zu zeigen. Wichtig ist, dass der Dialog wieder wächst. Wenn man miteinander spricht, gibt es keine Notwendigkeit für solche Gewaltakte. Wenn man sich gegenseitig zuhört, verflüchtigen sich die Stereotypen.

Ihr Film handelt von kulturellen Wurzeln. Auffällig ist, dass Ihre Figuren in Versen sprechen. Muss man darin eine Auseinandersetzung mit Ihren Wurzeln, etwa einer englischen Theatertradition, sehen?

Es war wie ein Zwang, in dieser Form zu schreiben. Wenn ich auf etwas aus England stolz bin, und das ist nicht viel, dann ist es Shakespeare. Englisch ist eine enorm reiche Sprache, und sie gewinnt noch einmal dadurch, dass so viele Menschen außerhalb Englands sie mit ihrer Färbung und Intonation bereichern. Das spiegelt sich auch im Film und seinen Figuren, die Englisch auf je individuelle Art sprechen.

Die Versform ist eine strenge, musikalische Form.

Sie ist vor allem näher bei unserm Denken. Wir denken nicht in organisierten Sätzen und Abschnitten, sondern in einem Fluss von Bildern, Tönen, Erinnerungen. Mir kommt das manchmal vor wie ein raunender Chor im Kopf. Auf diesen versuchte ich zu hören und ihn in eine strikte Form zu bringen. Oft gibt gerade ein strenger Rahmen dem Maler die Freiheit, etwas auszuprobieren. Die Versform ist ja sehr alt – denken Sie nur an die antiken Epen – und andererseits sehr jung: Hip-Hop, Rap, populäre Songs. Mein Drehbuch war das erste, das alle Figuren durchgehend in Versen sprechen lässt. Das finde ich erstaunlich.

Wenn wir vom kreativen Akt sprechen: Es gibt in Ihrem früheren Film „The Tango Lesson“ eine Szene, in der Sie an einem großen, runden Tisch sitzen, ein weißes Blatt Papier vor sich, einen Stift in der Hand, und die Kamera blickt von schräg oben auf Sie. Wie muss man sich Sally Potter beim Denken vorstellen?

Genau so! Das ist vielleicht die realistischste Szene in dem Film überhaupt.

Sie ist sehr eindringlich.

Wer schreibt, kennt die Situation im Angesicht des Nichts. Der Tisch wird zur großen Null. Mit dem ersten Wort auf dem leeren Papier hat man das Gefühl, man springe ins Weltall. Das ist immer noch ein Wunder für mich. Ich kann mich mit nichts an einen Tisch setzen, und von irgendwoher kommt dieses Etwas, das vielleicht einmal ein Film wird. Es ist ein unglaubliches Privileg, sich auf eine solche Reise begeben zu dürfen.