Hier war schon jemand

POLARFAHRT Die Hamburger Schriftstellerin Tina Uebel ist eine Welten- bummlerin. Sie durchsegelte die Nordwestpassage und hat dabei ein einfühlsames Buch geschrieben – über Reisen, Veränderung und Freundschaft

Jede Ecke der Welt, findet Uebel, sei unberührt und unbekannt, solange man sie nicht selbst bereist hat

VON CARLA BAUM

Für Pinguine hat Tina Uebel nicht viel übrig. „Haste einen gesehen, haste alle gesehen“, sagt sie. Geschichten aber, alte, abenteuerliche Seefahrtgeschichten von bärtigen verhungerten Männern, die zu Expeditionen aufbrachen und nie mehr gesehen wurden, haben es der Hamburgerin angetan. So sind es die Reiseberichte der Entdecker vom alten Schlag – Roald Amundsen, Frederick Cook und Co. – und nicht die Aussicht auf Gletscher und Eisbären, die in Uebel den Wunsch weckten, die Nordwestpassage zu durchsegeln und darüber ein Buch zu schreiben. Die Nordwestpassage, das ist jener mythenbehaftete und erst seit Kurzem sommers eisfreie Seeweg, der den Atlantik und den Pazifik entlang der arktischen Küsten Grönlands, Kanadas und der USA verbindet.

Jetzt, etwas mehr als anderthalb Jahre nach der Reise, sitzt Tina Uebel in einem Hamburger Café und fühlt sich pudelwohl im leicht unterkühlten Schmuddelwetter. „Für mich mit meinem Polarproblem ist das ein bisschen wie Methadon für ’nen Süchtigen“, sagt sie und lacht ihr tiefes Raucherlachen. Polarproblem, so nennt Uebel ihre sehnsüchtige Obsession mit polaren Regionen, die sich in zahlreichen Reisen und zwei ihrer fünf Romane äußert: dem 2005 erschienenen „Horror Vacui“, der von einer Südpolwanderung handelt, und nun dem nonfiktionalen Reiseroman „Nordwestpassage“.

Dahinter steckt zwar, unschwer zu erkennen, ein Hang zum Extremen, nicht aber das Streben nach Superlativen. So waren noch zwölf MitseglerInnen inklusive eines arktiserfahrenen Kapitäns an Bord der auch ansonsten üppig ausgestatteten „Santa Maria Australis“. Uebel ist es nicht wichtig, verrückte oder gefährliche Dinge zu tun, um damit die Erste zu sein. „Dieses Rennen darum ist doch affig“, findet sie. Zumal es, wie beim Lesen von „Nordwestpassage“ immer wieder schmerzlich klar wird, in der heutigen Welt fast unmöglich erscheint, noch irgendwo die Erste zu sein. Jeder Winkel ist schon von Menschen beschritten, markiert, kartiert, dokumentiert. Und so liegt bei den Landgängen, die Uebel und ihre Mitreisenden unternehmen, überall mindestens ein kleines Häufchen Steine, das zeigt: Hier war schon jemand, ihr seid nicht allein.

Die Steinmännchen sollen nicht das Einzige bleiben, das auf der Reise das melancholische Gefühl des Nichtmehr hervorruft. Wo einst Inuit ihrer traditionellen Lebensweise nachgingen, Robben und Karibus jagten, leben heute gelangweilte und der Statistik nach höchst suizidgefährdete Jugendliche, die ihre Tage vor dem Flachbildschirm verbringen und noch in Kindesjahren selbst Kinder bekommen. In den Supermärkten gibt es frische Pfirsiche aus südlichen Gefilden, am Eingang hängen Fotos von Unglücklichen, die wegen alkoholisierten Randalierens Hausverbot haben. Wo bei einer Polarexpedition vor vierzig Jahren noch Eisschollen die Bucht säumten, ist heute freie Fahrt durch das Wasser. Inseln und Eisberge, die auf den Karten eingezeichnet waren, sind verschwunden. Wo die Entdecker einst auf karges, lebloses Gelände trafen, steht heute ein Ranger bereit, der den Ankommenden eine Liste mit Verboten und Preisen überreicht.

Terrain von unfassbarer Schönheit erobert

Wenn es eine Kunst ist, sich davon nicht entzaubern und desillusionieren zu lassen, so beherrscht Tina Uebel diese. Die hanseatische Weltenbummlerin zitiert ihren Lieblingsentdecker Frederick Cook, der vielleicht, wahrscheinlich aber eher nicht, den Nordpol entdeckte: „Step by step, I invaded a world untrodden and unknown.“ Jede Ecke der Welt, findet Uebel, sei unberührt und unbekannt, solange man sie nicht selbst bereist habe. „Ich habe mir so über die Jahre ein Terrain erobert, was von unfassbarer Schönheit und voller schrulliger Begegnungen ist.“

In Skandinavien hat sie einen Samen beim Rentierhüten begleitet, ist durch die Mongolei geritten, und von Hamburg nach Schanghai mit dem Zug gefahren. Auch Nordkorea, Tschernobyl oder Kamtschatka, der nordöstlichste Winkel Russlands, waren schon Ziele ihrer Reisen. „Nordwestpassage“ ist somit vor allem ein Buch über das Reisen selbst geworden, über Reisefreundschaften, Reisezeit, Reiseerleben: „Wollen wir nicht die Pole sehen, sondern uns, aller Requisiten beraubt, vor einem White Screen?“, fragt Uebel.

Weil aber Leben und Reisen bisweilen wenig Sinn für Dramaturgie haben, kränkelt die tagebuchartige Beschreibung der Reiseetappen in der „Nordwestpassage“ für die nichtsegelnden und zu Hause gebliebenen LeserInnen auf 400 Seiten stellenweise an Wiederholung. Uebel verhehlt auch nicht, wie schwer es ihr gefallen ist, aus der erlebten Reise eine Geschichte zu bauen und über sich selbst zu schreiben. „Es war viel weniger lustvoll und auch schwieriger, als an einem Roman zu arbeiten“, sagt sie. „Ich war der Wahrheit verpflichtet und musste gleichzeitig abwägen, wie viel der persönlichen Geschichten meiner Mitreisenden ich preisgeben kann.“

Uebels letzter Roman „Last Exit Volksdorf“, eine Geschichte über die düstersten Seiten des vermeintlichen Vorstadtidylls, hatte ihr eine Klage eingebracht. Jemand erkannte sich in einer Romanfigur wieder, das Buch wurde für einige Monate per Unterlassungserklärung vom Markt genommen. Eine unschöne Erinnerung, die vielleicht den Wunsch nach seichteren Gewässern weckte. Doch Uebel möchte die „Nordwestpassage“ in keinem Zusammenhang damit sehen. „Reisevorhaben und Plan, darüber zu schreiben, gab es schon lange vor dem ‚Last Exit Volksdorf‘-Drama“, meint sie.

So erfährt man doch, abgesehen von Herkunft, Beruf und Gesprächsbeiträgen, wenig Details über die Mitseglerinnen. Spannender und für den Tagebuchalltag erfrischender sind aber ohnehin die kleinen, situationenbezogenen Exkurse, die in ihrer Kürze erstaunlichen Tiefgang beweisen.

Als etwa ein Mitreisender Uebel einmal das schwere Dinghi, das Beiboot, abnehmen möchte, entfaltet sie daran einen launischen Gedankengang über Geschlechterrollen und -klischees und die Frage, warum auf Segelreisen Frauen immer stark in der Unterzahl sind: „Wenn der dritte Andreas uns ein Dinghi aus den Händen genommen hat, glauben wir’s und glauben, wir sind eher im Weg als von Nutzen, und dann bleiben wir an Bord und backen Kuchen, und dann bleiben wir irgendwann ganz daheim.“

Flott wie die Sprache ist auch der Wechsel von Themen. Punkt, Absatz, es wird weitergesegelt.

Genau genommen wird gar nicht mehr aufgehört zu segeln. Am Ende der Nordwestpassage, im Buch nur angedeutet, ließ Uebel ihren Rückflug sausen und segelte mit verkleinerter Crew noch weiter nach Hawaii.

„Einen Monat nur See am Horizont“, schwärmt sie noch heute. Auch die nächste Reise ist schon geplant. Sie wird Uebel wieder mit der „Santa Maria Australis“ und dem gleichen Kapitän im Herbst nach Südgeorgien, einer Insel in der Antarktis, führen. Ihr Sehnsuchtsziel, der Südpol, ist von dort nicht mehr weit. „Aber bis ich dahin komme, müsste ich ein Jahr trainieren und aufhören zu rauchen“, sagt sie. „Das sehe ich momentan noch nicht.“

Tina Uebel: „Nordwestpassage für dreizehn Arglose und einen Joghurt“. C. H. Beck, München 2013, 400 Seiten, 19,95 Euro