Die falschen Opfer

Florian Schmaltz analysiert die Kampfstoffforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Beispiel für die enge Verflechtung von Industrie, Militär, Wissenschaft und NSDAP

Wissenschaft und Industrie verfolgten nach 1945 die gleiche Strategie. Anfangs durch die Alliierten noch zu einer gewissen Offenheit gezwungen, erklärten sie sich schon bald zu Opfern des NS-Systems. Das Gegenteil ist wahr.

Das beweist überzeugend die Reihe „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus“. In ihr dokumentiert seit 1998 die Max-Planck-Gesellschaft die Verbrechen ihrer Vorgängerorganisation. Da die KWG eine der bedeutendsten Forschungseinrichtungen Deutschlands seit dem Kaiserreich war, findet sich hier die wahrscheinlich größte Sammlung von Analysen über die Rolle unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen im Nationalsozialismus.

Im Band 11 untersucht Florian Schmaltz nun die Beiträge von Chemikern zur Kampfstoffforschung. Zwar wurden Nervengase in der nationalsozialistischen Kriegsführung nicht angewendet, doch das hatte keine ethischen Gründe. In den Kriegen gegen Polen, Frankreich, die Niederlande und Belgien sah man von einem Einsatz nur deshalb ab, weil sonst die nachrückenden deutschen Truppen auf dem vergiftetem Gelände hätten kämpfen müssen.

Als die deutsche Luftwaffe 1943 meldete, sie stünde für einen Gaskrieg bereit, zögerte Hitler. Eine große Rolle spielte dabei sein Trugschluss, die Alliierten verfügten über große Mengen Nervengas – was trotz einer Drohung Churchills im Jahr 1942 nicht zutraf. Die Explosion von 540 Tonnen Senfgas als Folge eines deutschen Luftangriffs im Hafen von Bari machte im Dezember 1943 außerdem klar, dass die deutsche Zivilbevölkerung nur mangelhaft mit Schutzmasken ausgestattet war.

Erst der Luftkrieg der Alliierten zerstörte dann zunehmend die logistischen Voraussetzungen eines aerochemischen Kriegs. An Industrie und Wissenschaft aber lag es nicht, dass dieser Chemiekrieg nicht geführt wurde. Das Dritte Reich hatte Unmengen chemischer Kampfstoffe produziert und gelagert. Und die Wissenschaft, so auch die Institute und Forscher der KWG, hatten neueste Chemiewaffen erforscht.

Zum Beispiel mein Großvater Gerhart Jander, dessen Bücher Studenten der Chemie bis heute lesen. Er war seit 1925 NSDAP-Mitglied und hatte sich bereits in der Weimarer Republik an Geheimforschungen zum Gaskrieg beteiligt, obwohl sie aufgrund des Versailler Vertrags verboten waren. Später forschte er darüber, wie man Gasschutzmasken gegnerischer Soldaten unbrauchbar machen konnte, um sie dem Gastod auszuliefern. Zudem beteiligte er sich daran, schwarze Listen von jüdischen Wissenschaftlern zu erstellen, die später Grundlage für ihre Berufsverbote wurden. Unterstützt von einem NS-Netzwerk verdrängte er 1933 Fritz Haber als Direktor des KWI für physikalische Chemie. Und er tat das, was Haber verweigert hatte: „Augenblicklich muss ich dauernd noch entlassen. Die Goldfinger, Ehrlich, Kerschbaum, Eppstein, Beutler etc., die immer noch hier kleben und nicht gehen wollen.“ Danach leitete er den Umbau des Instituts zu einem zentralen Ort chemischer Kampfstoffforschung ein.

Aber nicht nur die Verbrechen Gerhart Janders hat der Autor Florian Schmaltz in bewundernswerter Präzision zusammengetragen und analysiert, er beschreibt das ganze Netzwerk der chemischen Kampfstoffforschung im Nationalsozialismus, das vom Heereswaffenamt der Wehrmacht koordiniert wurde. Die KWG bot, so Schmaltz, „als größte außeruniversitäre Forschungsinstitution ideale Voraussetzungen für die Bereitstellung wissenschaftlicher Ressourcen, die dem Militär zur Entwicklung chemischer Waffen fehlten“. Zwar gibt es keine Belege für eine direkte Beteiligung von Forschern der KWG an Menschenversuchen in Konzentrationslagern, aber es bestanden enge Verbindungen zu Wissenschaftlern, die Giftgasversuche an KZ- Häftlingen durchführten.

Florian Schmaltz hat sich mit Hilfe einer großen Zahl von Beratern in das personelle wie fachliche Netzwerk der chemischen Kampfstoffforschung hineingearbeitet und breitet es in einer auch für Unkundige verständlichen Form aus. Er analysiert diese Forschung als Beispiel der engen Verflechtung von Industrie, Militär, Wissenschaft und NSDAP im Nationalsozialismus. Ganz im Widerspruch zu deren Selbstdarstellung nach 1945 haben diese Institutionen und ihr Personal alle Möglichkeiten begierig genutzt, die ihnen die nationalsozialistische Rassen- und Eroberungspolitik bot, und diese vorangetrieben. MARTIN JANDER

Florian Schmaltz: „Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie“. Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 676 S., 39 €ĽZur Geschichte der KWG: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/publications.htm