Floaten und Outen

Verlagsroman, Initiationsroman: Hanns-Josef Ortheil emanzipiert sich mit „Die geheimen Stunden der Nacht“ von der Generation Walser-Grass

Die zurückhaltende, blasse Hauptfigur repräsentiert eine Generation, der vieles leichter gefallen ist als ihren Eltern

von ANNE KRAUME

Das Brauhaus Früh am Dom in Köln ist eine Art Köln en miniature: traditionsreich und touristisch, voll und lärmig, verwinkelt und dunkel, mit einigen stillen Ecken, ein Ort zum Feiern und Versacken, zum Reden und Verhandeln. In diesem Brauhaus, so will es Hanns-Josef Ortheil in seinem neuen Roman „Die geheimen Stunden der Nacht“, hat der alte Verleger Reinhard von Heuken, als er noch ein junger Verleger war, eines seiner berühmten Geschäfte abgeschlossen: Unterstützt von viel Kölsch, rheinischem Sauerbraten und holländischen Zigarren hat er dort Mitte der Fünfzigerjahre dem Verleger Walter Caspar dessen alteingesessenen Kölner Literaturverlag Caspar & Cuypers abgekauft.

Caspar & Cuypers ist jetzt, knapp fünfzig Jahre später, einer von sieben Verlagen der Heuken-Gruppe, zu der außerdem vier Zeitungen, mehrere Zeitschriften und ein Buchclub gehören. Reinhard von Heuken, der diesem Unternehmen vorsteht, ist noch immer ein Mann, der fest zum Inventar im Früh am Dom gehören könnte: ein Kölner, wie er im Buche steht, ein Mann, der Lebenslust mit Geschäftsgeist vereint, und ein Patriarch, der sich noch lange nicht mit der leidigen Frage seiner Nachfolge im Konzern hatte beschäftigen wollen.

„Die geheimen Stunden der Nacht“ ist ein Verlagsroman, der von der Nähe des Autors zum Geschäft profitiert: Hanns-Josef Ortheil kennt das Verlagswesen nicht nur als Autor und Dozent für kreatives Schreiben, sondern auch, weil er mit Imma Klemm, der Chefin des Stuttgarter Kröner Verlags verheiratet ist – ihr hat er seinen Roman gewidmet. Dieser Roman enthält nun alles, was den Literaturbetrieb ausmacht – Lektorenkonferenzen und Agentinnen mit Netzstrümpfen, Herbstprogramme und die Termine der nahenden Buchmesse –, und dank Ortheils witzigen Schilderungen werden sich Kenner der Branche nicht schwer damit tun, diesen Beschreibungen nicht nur in ihrer Allgemeinheit zu folgen, sondern in den detailversessenen Charakterbildern auch einige der prominentesten Vertreter der Branche „enttarnen“ zu können: Der alte Reinhard von Heuken erinnert an den alten Siegfried Unseld, und der ebenfalls in die Jahre gekommene Starautor des Verlags, Wilhelm Hanggartner, hat von Martin Walser nicht nur die Familienverhältnisse und den Wohnort am Rande Deutschlands, sondern auch die Eitelkeit und die Romanthemen.

Trotzdem: „Die geheimen Stunden der Nacht“ ist nicht nur eine augenzwinkernde Verständigung unter Eingeweihten – der Roman besticht zwar durch seine kenntnisreichen und leicht wehmütig-ironischen Schilderungen der Verlagswelt in Zeiten der Mischkalkulation. Darüber hinaus hat er aber weitere Qualitäten: Er ist auch ein kaschierter Initiationsroman.

Anders als der alte Verleger Reinhard von Heuken passt dessen Sohn Georg nicht ins Früh am Dom. Georg von Heuken ist schon jenseits der fünfzig, als Hanns-Josef Ortheils Roman einsetzt und ihn auf seiner morgendlichen Fahrt den Rhein entlang in die Konzernzentrale begleitet. Georg von Heuken leitet mit Caspar & Cuypers nur einen der Verlage des Konzerns, und auch das erst seit kurzem. Er ist soigniert, kultiviert, situiert – Ehefrau, zwei Kinder, englisches Kindermädchen und Bungalow am Rhein. Vor allem aber ist Georg von Heuken Sohn, und als solcher erreicht ihn auf der Fahrt zum Konzern der Anruf seiner Vorzimmerdame Joana, die ihm vom zweiten Herzinfarkt seines Vaters berichtet.

Die Zeit, die auf diesen Anruf folgt, ist nun die erzählte Zeit des Romans, und es ist für Georg von Heuken die Zeit einer Selbstfindung. Der Vater ist nicht tot, aber er befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Der Sohn übernimmt in dieser Zeit nicht nur mehr und mehr die Geschäfte des Vaters, sondern er schlüpft auch in anderen Bereichen in dessen Rolle. Er entdeckt, dass sein Vater eine geheime Suite im Kölner Domhotel gemietet hatte, und übernimmt sie, zusammen mit den Trinkgewohnheiten des Vaters und dem schweren, nach 4711 duftenden Bademantel. Wie der Vater beginnt auch der Sohn kleine Geheimnisse zu haben.

„Floating“, „Standing“ und „Outing“ sind die drei Teile des Romans überschrieben; sie entsprechen drei Etappen auf dem Weg des Protagonisten. Hatte er sich im ersten Teil noch in ein lindgrünes, mit Wasser gefülltes Ei zum „Floaten“ begeben, um sich dort in embryonaler Schwerelosigkeit treiben zu lassen, so entwickelt er im zweiten eigene private und berufliche Ziele. Im dritten Teil gelingt es ihm schließlich, diese auch gegen Widerstände durchzusetzen.

Der Vater hatte seine Energie, die unternehmerische wie die private, nicht zuletzt aus dem Umstand bezogen, dass er den Krieg überlebte und den Aufbruch der Nachkriegszeit mitgestaltete. Der Sohn hat, ebenso wie sein Bruder und seine Schwester, daneben kaum Raum gefunden, eigene Wege zu beschreiten. Jetzt, da es um die Nachfolge des Vaters geht, da die beiden Brüder zum ersten Mal offen in Konkurrenz zueinander treten, geht es darum, wer die Lücke besser schließen kann, die der Vater hinterlässt.

Auch wenn Georg von Heuken bisher eher durch unternehmerischen Sachverstand aufgefallen war denn durch ausgeprägtes literarisches Gespür und menschliches Geschick, gelingt es ihm jetzt, dem kapriziösen Starautor Hanggartner erfolgreich dessen neues Manuskript abzuschwatzen. In dieser stark überzeichneten Szene kopiert Hanggartner bis ins kleinste Detail die Eigenheiten und Manien seines Vorbilds Martin Walser – und Georg von Heuken kann in der Rolle des freundschaftlich, aber hart argumentierenden Verlegers sein neu erworbenes Selbstbewusstsein erproben. Diese Szene bildet das dramatische Zentrum des Romans– und Georg von Heuken geht aus ihr betrunken, aber gestärkt hervor.

Mit seinem zurückhaltenden und etwas blassen Protagonisten schafft Hanns-Josef Ortheil den Repräsentanten einer Generation, der vieles leichter gefallen ist als ihren Eltern – die aber gerade deshalb auch immer Schwierigkeiten haben muss, sich gegen diese zu profilieren. Weil Ortheil selbst dieser Generation angehört, ist die Emanzipationsgeschichte, von der „Die geheimen Stunden der Nacht“ erzählt, auch die des Autors von der Generation Martin Walsers.

Hanns-Josef Ortheil: „Die geheimen Stunden der Nacht“. Luchterhand, München 2005, 384 Seiten, 21,90 €