Jede Zunge wird bekennen – nur was, ist die Frage

DEBÜT Grenzsituationen, die mit Hautfarbe zu tun haben: sprachmächtige und punktgenaue Erzählungen der US-Amerikanerin ZZ Packer

Sie umgibt sich mit Worthülsen wie mit einem Panzer, eine sarkastische Fassade aus Abweisung, hinter der die Ereignisse zurückgespult und umgeschrieben, gelöscht und redigiert werden können

Wenn jemand Schwester Clareese aus dem Konzept bringt, verselbständigen sich ihre frommen Versatzstücke. „,Glauben Sie mir, Mr Sanders, der Herr wohnt jedem Gottesdienst bei. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.‘ Sie seufzte und versuchte sich zu erinnern, was sie ihm eigentlich hatte sagen wollen. ‚Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand …‘“ Dass der „ungerettete“ Bluesmusiker Cleophus Sanders den Satz vervollständigen kann, weil er den Rhythmus der Worte wahrnimmt wie Musik („… kommt zum Vater außer durch mich“), hält sie für ein göttliches Wunder – bis sein „sündhaftes Gelächter“ ihre atemlose Verzückung durchbricht.

Wie dann am Ende der Spötter doch im Gottesdienst erscheint, einbeinig und mit umgehängter Gitarre, die ekstatische Gemeinde entlang des Mittelgangs teilend, und seine Augen sich an ihre saugen, demonstriert, dass ZZ Packer nicht nur über ein außergewöhnliches Sprachgefühl, sondern auch einen über ein punktgenau eingesetztes Gespür für Dramaturgie verfügt.

Dabei sind die Stories der 1973 in Chicago geborenen Afroamerikanerin Zuwena Packer, die unter dem Titel „Kaffee trinken anderswo“ mittlerweile auf Deutsch erschienen sind, bei aller erzählerischen Präzision nie lebensleer. Aus Clareese’ zwischen Frömmigkeit und scharfer Beobachtung changierender Erzählperspektive in „Jede Zunge wird bekennen“ entwickelt sich ein vielschichtiger Charakter. So eifrig sie ihr Leben nach den Koordinaten ihres Glaubens ausrichtet, so deutlich empfindet sie die Gameshow-Akkorde des Organisten ihrer Pfingstkirche und die verlogene Banalität von Pastor Everetts schweißtropfenden Predigten. Wie sich Clareese immer wieder verbal am Riemen reißen muss, um ihre Gedanken zurück in Einklang mit denen des Herrn zu bringen, und gleichzeitig versucht, jeden zu bekehren, ob er will oder nicht, ist extrem komisch, ohne dass die Figur je zur Karikatur würde.

Auch die anderen Figuren, allesamt junge Afroamerikaner, sind in ihrer Brüchigkeit glaubwürdige Charaktere, die mit ihrer Umwelt hadern. In der Titelgeschichte des in den USA bereits 2003 erschienenen und mehrfach ausgezeichneten Debütbands hat es Dina aus Baltimores armem Schwarzenviertel an die Eliteuniversität Yale geschafft, wo sie es sich aber bereits am ersten Tag mit allen vergeigt, weil sie beim Kennenlernspiel gern ein Revolver wäre. Die Schilderung der Beziehung, die sich zu ihrer Mitstudentin Heidi entwickelt, die eines Tages heulend und mit einer Haut „in der Farbe von rohem Hühnerfleisch“ vor ihrem zwangsverordneten Einzelzimmer steht, gehört zu den zartesten, poetischsten Passagen des Buches. Dina stößt Heidi in dem Moment von sich, in dem sie ihre größte Gemeinsamkeit teilen könnten – als Heidis Mutter stirbt. Sie umgibt sich mit Worthülsen wie mit einem Panzer, eine sarkastische Fassade aus Abweisung, hinter der die Ereignisse „immer zurückgespult und gelöscht, umgeschrieben und redigiert werden können“.

Spurgeon, der einzige männliche Protagonist des Buches, versucht ebenfalls zumindest verbal die Oberhand zu behalten, als er, anstatt beim Debattierwettbewerb zu reüssieren, seinen durchgeknallten, soeben aus dem Gefängnis entlassenen Vater zum „Million Man March“ nach Washington fahren soll, um dort exotische Vögel zu verkaufen.

Historische Markierungen wie dieser 1995 von der Nation of Islam angeführte Marsch oder, an anderer Stelle, ein Fernsehbeitrag über Martin Luther King verorten ZZ Packers Stories in einem Zusammenhang, in dem es um mehr geht als um nur individuelles Außenseitertum – aber dies individuelle Außenseitertum wird hier doch nie nivelliert. Die Grenzsituationen, denen die Yale-Absolventin Packer ihre Figuren aussetzt, haben immer auch etwas mit deren schwarzer Hautfarbe zu tun und mit den Schwierigkeiten, die mit dieser auch im heutigen Amerika noch verbunden sind. Aber im Mittelpunkt dieser ausdifferenzierten Welten – vom Pfadfinderlager bis zur zusammengewürfelten Auswanderer-WG in Tokio – steht immer ein Charakter, keine Botschaft. LAVINIA MEIER-EWERT

ZZ Packer: „Kaffee trinken anderswo“. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. A1 Verlag, München 2009, 280 Seiten, 19,80 Euro