Im Kino die Kindheit beerdigen

ERWACHSENWERDEN Es ist mal wieder so weit: Der halbe Osten trifft sich im Frühling bei der Jugendweihe. Warum ist dieses Ritual nicht totzukriegen? Eine Spurensuche im CineMotion Hohenschönhausen

VON MARTIN RANK

Ein bisschen fragt man sich schon, ob man im falschen Film gelandet ist: Die Bässe wummern mit voller Wucht, als die Jugendlichen vorsichtig die steilen Treppenstufen im Kinosaal 3 hinabsteigen. „We are superstars“, schreit es aus den Lautsprechern. Einige der Mädchen tragen Stöckelschuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen.

„Hier sind ihre Kinder“, ruft der Moderator. Das Publikum jubelt. Kein Platz ist frei im Saal. Jeder Jugendliche konnte 6 Angehörige zu seiner Jugendweihe im CineMotion von Hohenschönhausen mitbringen. Es ist schon der zweite Durchgang an diesem Samstag. 55 Mädchen und Jungs wurden gerade geweiht, nun sind noch mal 55 dran.

Auf der Bühne performen Tänzer und Musiker. Der Poetry Slammer Micha Ebeling soll für gute Stimmung sorgen: „Gleich – ich verrate nicht zu viel – werdet ihr ganz, ganz andere Menschen werden.“ Dafür sorgt dann eine Festrednerin: die Vizechefin der Linken-Fraktion, Gesine Lötzsch. Der Moderator stellt sie als „Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Dr. Gesine Lötzsch“, vor.

„Ich finde, dieser Ort ist vom Veranstalter gut gewählt“, sagt die Politikerin, als sie vor der riesigen Leinwand steht, umgeben von einer Deko aus rosa Rosen und antiken Säulen. „Vor den Augen eurer Eltern und Verwandten läuft gerade ein Film ab.“ Die Rede strotzt nur so vor Kinometaphern: „Liebe Mütter, liebe Väter, bisher haben Sie die Regie im Leben ihrer Kinder geführt. Die waren entzückende Darsteller. Aber bald werden sie ihnen den Regieplatz streitig machen.“

So geht das munter weiter, Lötzsch lässt wirklich nichts aus: „Die Schwierigkeit für euch ist, dass ihr zugleich Regisseur und Hauptdarsteller in eurem einzigartigen Stück seid“, gibt sie den Teenagern mit auf den Weg. „Ich kann euch sagen, dass viele Menschen es nie gelernt haben, Regie zu führen. Es ist wahre Kunst. Es ist Lebenskunst. Gestaltet euren eigenen Film. Ihr nehmt die Kamera selbst in die Hand.“

Jetzt wird es ernst: „Und damit seid ihr gefragt“, ruft der Moderator und bittet die ersten Jugendlichen auf die Bühne. Sie stellen sich der Reihe nach auf. Es läuft festliche Musik, die ein bisschen nach Alleinunterhalter-Keyboard klingt. Gesine Lötzsch gibt jedem die Hand, überreicht Urkunden, ein Jugendweihe-Buch – und eine Karte von sich. Immer ist eine Kamera dabei, das Bild wird live auf die riesige Leinwand übertragen. Blumenmädchen verteilen Rosen.

Ein wenig sieht es aus wie Fasching: Die Abendkleider, die Hochsteckfrisuren, das Make-up, die viel zu hohen Stöckelschuhe und die Anzüge passen noch nicht recht zu den Mädchen und Jungen. Nach dem letzten Geleitspruch – „Den größten Fehler, den man im Leben machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen“ – sind sie erlöst und kehren als Erwachsene auf ihre Sessel zurück.

Lötzsch hat schon viele solcher Festreden gehalten. „Sie ist bei uns besonders engagiert“, erklärt Anja Gladkich, Geschäftsführerin des Vereins Jugendweihe Berlin Brandenburg. „Aber wir haben nicht nur Linkenpolitiker als Festredner.“ Die Jugendweihe sei auch nicht als Gegenbewegung zur Konfirmation zu verstehen, findet Gladkich, sondern als weltanschaulich unabhängiges Familienfest, bei dem die Eltern zeigen könnten, dass sie stolz auf ihre Kinder sind.

Feiern statt Weihen

Seine Wurzeln hat der Verein allerdings im DDR-Jugendweiheausschuss, es ist auch der größte Anbieter der Republik. Wichtigster Berliner Konkurrent ist der Humanistische Verband, der sich mit seiner „Jugendfeier“ im Friedrichstadtpalast abgrenzt und durch ein umfangreiches Vorbereitungsprogramm Werte vermitteln will. Die Jugendlichen und ihre Eltern im CineMotion sind dagegen beim Festakt zum ersten Mal auf den Veranstalter getroffen. Zusammen kommen beide Vereine dieses Jahr über auf 6.000 Jugendliche, rund ein Viertel des Jahrgangs, die meisten aus dem Osten.

Wenn es heute noch ein spezifisch ostdeutsches Phänomen gibt, dann die Jugendweihe. Zwar wird das Ritual auch anderswo gefeiert, aber nur von kleinen Minderheiten. Im Osten der Republik hat die „Weihe“ die Wende als Massenphänomen überlebt. Nach einem vorübergehenden Sinken der Teilnehmerzahlen auf weniger als ein Drittel der Jahrgänge bekam das Ritual in den 90er Jahren neuen Auftrieb. Zur Jahrtausendwende nahm fast jeder zweite teil, mittlerweile sind es sogar über 50 Prozent, schätzt Anja Gladkich.

Aber warum ist das nicht mit der DDR untergegangen? Warum stellen sich aufgebrezelte junge Leute freiwillig vor ihren Eltern auf eine Bühne und beerdigen zusammen mit einer Politikerin ihre Kindheit? Man könnte es sich einfach machen und die Jugendweihe als hohlen Ostalgieclub verspotten: Früher die SED-Bonzen, heute „Bundestagsabgeordnete Dr. Lötzsch“. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Sicher, da war der „freiwillige Zwang“: Die SED zelebrierte das 160 Jahre alte Freidenkerritual als wichtige Zäsur in der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit und verlangte von den „Weihlingen“ ein Lippenbekenntnis zum Sozialismus. Auch wenn die Teilnahme nicht verpflichtend war, wurde die Verweigerung als ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft gewertet und konnte Sanktionen zur Folge haben.

Aber es gab eben nicht nur den staatlichen Festakt. Fragt man die Eltern zu ihrer eigenen Jugendweihe, erinnern sie sich vor allem an die anschließende Familienfeier. Es gab Geld von der ganzen Verwandtschaft. Den ersten Rausch. Vielleicht den ersten Kuss. Es war das kollektive Ereignis einer Jugend: 97 Prozent eines Jahrgangs nahmen in den späten 80ern an der Jugendweihe teil. „Die Diskriminierung in der DDR und das Gelöbnis werden heute durchaus kritisch reflektiert“, sagt Anja Gladkich. „Aber man verbindet auch positive Erinnerungen damit“, sagt Gladkich. „Die Eltern wollen die Tradition weiterführen und melden die Kinder an.“

Ostdeutsche Identität

Der Soziologe Christian Schmidt-Wellenburg hat vor einigen Jahren einen lesenswerten Text über dieses Phänomen geschrieben. Er geht davon aus, dass die Feier eine wichtige Funktion für das Selbstbild der Teilnehmenden hat: „Die Jugendweihe ist eine Lösung des Problems ostdeutscher Identitätskonstruktion, das auf der beispiellosen Diskontinuität der Lebensläufe beruht.“ Sie biete „einen seltenen Rahmen, der aufgrund seiner hohen, dem Ritualaufbau geschuldeten Formalität keine diskursive Auseinandersetzung zulässt und gegen Widerspruch immunisiert“.

Inhaltlich ist die Veranstaltung im CineMotion von Hohenschönhausen so angelegt, dass jeder mitgenommen wird, der sich irgendwie mit westlichen Werten identifizieren kann. Hauptbotschaft des Vormittags: Seid nett zu euren Mitmenschen, seid nett zur Natur. Übernehmt Verantwortung. Krieg ist doof.

Irgendwann läutet schließlich der Song „We Are the World“ das Ende ein. Der Ticketstand des Kinos ist schon geöffnet, um 14.30 Uhr beginnt das reguläre Programm. Rasch löst sich das Jugendweihe-Publikum vor dem Kino in einzelne Familienkreise auf. Jetzt wird es ernst.