MICHAEL STRECK über BACK HOME
: Endlich gecheckt: „politisch korrekt“

Im Ernst: Der Sinn dieser viel belächelten Sozialmarotte „made in USA“ ging mir erst im Berliner Nachtleben auf

Michael Streck war fast fünf Jahre lang taz-Korrespondent in den USA. Nun ist er „back home“ und erlebt einen Kulturschock nach dem anderen …

Washington ist ungefähr so cool wie Stuttgart und die nächste Stadt, die diesem Attribut gerecht wird, New York, mehr als vier Busstunden entfernt. Klar, dass ich nach mehr als vier Jahren Abstinenz in Sachen „coolness“ nach meiner Rückkehr in die Heimat all jene Orte aufsuchte, die für mich diesen Begriff geprägt haben: Bars, Clubs, Tanzschuppen. Endlich keine Sperrstunde mehr. Vergnügen rund um die Uhr. Bier draußen nicht mehr in Papiertüten stecken müssen. Marihuanaschwaden am Tresen, stetiges Neuerfinden und so weiter.

Erst war alles wie gehabt. Das Kaffee Burger quoll über von zuckenden, sich verrenkenden Leibern, in einer Hand immer die Flasche Bier. Leichter Männerüberschuss. Die Freundin, mit der ich dort war, trug die ersten, wenig fantasievollen Annäherungsversuche der Alphamännchen mit Fassung und Humor.

Plötzlich schob sich im Gewühl ein Mann an sie heran, baute sich einen Zentimeter vor ihr auf und gestikulierte mit den Händen vor ihrem Gesicht. Sein Blick war gläsern, er tänzelte, gab nicht entschlüsselbare Laute von sich. Der Großstadtschamane erschien nicht als Bedrohung, viel zu benebelt war sein Hirn. Doch er nervte kolossal, da sich die Bedrängte immer neuen Raum erobern musste. Den gleichen Akt führte er auch vor anderen Damen auf, tauchte aber immer wieder vor meiner Freundin auf. Niemand schien sich an ihm zu stören. Der hätte halt ein paar Pillen zu viel eingeworfen, beschwichtigte man mich. Doch sein Drängen wurde zunehmend zur Qual. Er stieß an, hielt kaum die Balance und wurde immer unberechenbarer. Wütend – der Kerl war dabei, meinen ersten Tanzabend zu ruinieren – herrschte ich ihn an und drohte mit Rauswurf. Statt wohlwollender Blicke erntete ich solche, die sagten: „Was bist du denn für ein uncooler Typ?“ Auf einmal war ich der Spielverderber.

Okay, ein Einzelfall, dachte ich und versuchte mich abzulenken. Bis ich den Mann im roten Hemd registrierte, der grinsend mal direkt vor, neben oder hinter meiner Freundin stand und mit einem kalt-lüsternen Blick an ihr festklebte. Egal, wohin sie auch flüchtete, wenig später war er auch da. Irgendwann fauchte sie ihn an. Er grinste nur: „Ich kann nicht anders.“

Vielleicht hätte ich auch diesen aufdringlichen Vertreter noch als notwendig bizarre Erscheinung einer versoffenen, drogenbetäubten Gesellschaft abtun und mich vergnüglicheren Dingen zuwenden können, wären da nicht noch weitere Herren ins Spiel gekommen, die in Sachen Geschlechterkommunikation die Feinfühligkeit von Kamelhändlern an den Tag legten.

Die Frau war Freiwild. Des einen Hand suchte immer ihren Po. Ein anderer wollte an ihre Beine. Wie auf dem Markt, wo reifes Obst betastet wird. Möglich, dass derart zupackendes Verhalten in meiner Abwesenheit zur Norm geworden ist. Schließlich protestierte niemand.

Ich sehnte mich nach Washington zurück. Hier halten selbst Raubeine in Spelunken die Grundregeln des Anstands ein. Wenn nicht, werden sie von einem Muskelmann kurzerhand vor die Tür befördert. Das gebietet die „political correctness“.

Was habe ich über „PC“ gelästert, die politische Korrektheit! Sie „uncool“ gescholten, künstlich und überzogen. Wenn etwa derjenige, dem auf den Fuß getreten wird, sich entschuldigt, da sein Fuß im Wege war. Oder wenn Männer Bürotüren offen lassen müssen, wenn sie mit einer Frau sprechen, um den Verdacht sexueller Belästigung auszuschließen.

Damit ist nun Schluss. Ich werde sie fortan würdigen als einen großen Fortschritt der Menschheit: ein sinnvoller Verhaltenskodex für völkergemischte Gesellschaften, der jedem einen klaren Maßstab liefert, wo die Grenzen sind im menschlichen Miteinander. Egal ob man am Ural aufgewachsen ist, in Anatolien oder Gütersloh.

Etwas mehr amerikanische Verhältnisse, bitte!

Fotohinweis: MICHAEL STRECK BACK HOME Politisch korrekt? kolumne@taz.de MORGEN: Josef Winkler über ZEITSCHLEIFE