Am Ereignisrand eines Lebens

PHILOSOPHIE Benoît Peeters umfassende Biografie des ruhelosen Denkers Jacques Derrida

Das Begehren nach einer durchlässigen Wirklichkeit ist die Triebkraft

VON CHRISTOF FORDERER

Von Karl Marx stammt das bekannte Diktum, dass die großen Ereignisse sich zweimal ereignen: zuerst als Tragödie, dann als Farce. Derrida – der Anfang der 90er Jahre, als der neoliberale Zeitgeist Marx zu Sperrmüll erklären wollte, meinte, dass das „Gespenst“ des Kommunismus angesichts zahlreicher Ungerechtigkeiten noch immer Grund habe, in der Welt „umzugehen“ – könnte diesen Satz mit eigenem Material illustrieren.

Zweimal in seinem Leben geriet er in das Fadenkreuz menschenverachtender Mächte. Zunächst in Algier, wo der 12-jährige Sprössling einer einst aus Spanien vertriebenen jüdisch-sephardischen Familie aufgrund der antisemitischen Gesetze der Vichy-treuen Kolonialverwaltung die französische Schule verlassen musste. Knapp 40 Jahre später schlug erneut ein diktatorisches Regime zu, aber diesmal linkisch-unbeholfen und schnell zum blamablen Nachgeben gezwungen: 1981 inhaftierten die tschechoslowakischen Machthaber den zur Unterstützung der Bürgerbewegung eingereisten Philosophen, nachdem sie in sein Gepäck Drogen hineinmanövriert hatten.

Wenn Heinrich Heine spotten konnte, Immanuel Kants Lebensgeschichte sei schwer zu erzählen, denn dieser habe weder Leben noch Geschichte gehabt, so stellt sich diese Schwierigkeit Benoît Peeters in seiner knapp tausend Seiten umfassenden Derrida-Biografie offensichtlich nicht. Der fulminante Aufstieg des „kleinen arabischen und sehr schwarzen Juden“ zum internationalen Starphilosophen, so Peeters, „schreit“ geradezu nach narrativer Aufbereitung. Die Biografie ist angenehm erzählt und gut dokumentiert. Wer sich allerdings erhofft, dank einer Biografie endlich ein bequemes Sesam-öffne-dich zu Derridas oft schwieriger Philosophie zu besitzen, wird enttäuscht werden. Die Kurzskizzen von Derridas Werken, die Peters immer wieder einflicht, sind oft eher so etwas wie ein Abschieben in Quarantäne als eine intellektuelle Kontaktaufnahme.

Die Stärke des Buches liegt woanders: in der exakten Kartografierung der Zeitgeschichte, der Milieus, der Begegnungen und Begebenheiten, also all dessen, was so etwas wie den Ereignisrand eines Lebens konstituiert. Kulturgeschichtlich interessant ist Peeters Beschreibung des Paris der Strukturalisten, der linksradikalen 68er und dann der „Neuen Philosophen“: ein von Positionskämpfen und Eifersüchteleien unterminiertes Feld, mit dem Derrida oft schlecht zurechtkam, wo er gleichwohl aber auch enge Freundschaften zu so unterschiedlichen Personen wie Genet und Althusser schließen konnte.

Auch wenn Peeters es vermeiden will, „Schlüsselerlebnisse“ aufzuspüren, so bahnt er gleichwohl einen neuen Zugang zu dem subtilen, manchmal auch schillernden Denken des Philosophen. Indem er auf Derridas nie ganz gesicherte Zugehörigkeit fokussiert, macht er spürbar, dass sein Schreiben zur Antriebsfeder eine tief sitzende „Beunruhigung“ hatte.

Ein Künstlerphilosoph

Die prekäre Zugehörigkeit des sich selbst einmal als „letzten Juden“ bezeichnenden Derrida beginnt schon damit, dass der glänzende Schriftsteller, der er war – in seiner zweiten Lebenshälfte kam er dem nietzscheanischen Ideal des Künstlerphilosophen nahe –, seine virtuosen Texte in einer „Sprache, die nicht die seine war“, schreiben musste (der französische Kolonialismus hatte die nordafrikanischen Juden kulturell entwurzelt).

Dem französischen Universitätsbetrieb war er gewissermaßen immer nur mit linker Hand angetraut; es schien ihm empfehlenswert, seinen Studenten, wenn sie bestehen wollen, zu raten, besser nicht so zu schreiben, wie er selbst es praktizierte. Gleich zweimal bedurfte es der fernen USA, um ihm den ihm zustehenden Platz zu verschaffen: Einst hatten ihm die Invasionstruppen seine Schulbank zurückerobert; später waren es die amerikanischen Universitäten, die sich zuerst seiner Philosophie öffneten und diese dann zum Instrument gegen sexistischen und rassistischen Essenzialismus weiterentwickelten.

Die „Dekonstruktion“, so kann es scheinen, ist Derridas subversive Antwort auf die sich tief in ihn eingrabende Erfahrung, auf die eine oder andere Weise draußen vor der Tür zu stehen: Sie macht sich dran, durch akribische Lektüre tief in die abendländische Denktradition einzudringen, lässt diese dabei aber wie einen Analysanden, der auf der Couch liegt, Dinge sagen, die ihr von selbst nie in den Sinn gekommen wären und die ihre Tendenz zur ausschließenden Eindeutigkeit unterminieren.

Das Begehren nach einer durchlässigen Wirklichkeit ist auch die Triebkraft seiner berühmtesten Erfindung: der Aushebelung der starren „différence“ der Strukturalisten durch den Neologismus der dynamischen „différance“. Damit hat er seiner Zunft unverschämterweise einen Rechtschreibfehler aufgezwungen und sich erneut als nicht ganz dazugehörig geoutet.

Benoît Peeters: „Jacques Derrida. Eine Biographie“. Aus dem Französischen von H. Brühmann. Suhrkamp, Berlin 2012, 935 S., 39,95 Euro