Felsenfest überzeugt

EXTREMSPORTLER Mit 250 Kilometern pro Stunde rauscht Präzisionsflieger Alexander Polli vom Hubschrauber aus durch ein kleines Felsentor. Warum? Der 27-Jährige will seine gewaltigen Ängste überwinden

■ Die Ausrüstung: Der Wingsuit (Flügelanzug) wird vor allem beim „Skydiving“ eingesetzt. Dabei springt man aus einem Flugzeug, schwebt dann eine Weile in der Luft, bevor man einen Fallschirm öffnet.

■ Die Königsdisziplin: Beim Proximity Flying wird versucht, so nahe wie möglich an Felswänden oder Bäumen vorbeizufliegen. Man springt dabei aus einem Helikopter oder Heißluftballon, aber auch von Felswänden oder Berggipfeln.

■ Das Risiko: Das Fliegen mit einem Wingsuit ist extrem kompliziert und gefährlich (Allein im Jahr 2011 starben zehn Personen). Die United States Parachute Association (USPA) rät, vor dem ersten Flug mit einem Wingsuit mindestens 200 Fallschirmsprünge praktiziert zu haben. 500 angeleitete Wingsuit Sprünge sollten vor dem ersten Alleingang stehen.

■ Der Sponsor der Gefahr: Seit im Jahr 2009 zwei Springer bei einem Werbeauftritt im Auftrag von Red Bull sowie bei Dreharbeiten für einen Werbefilm der Getränkemarke tödlich verunglückten, wurde Kritik am Limohersteller laut. Seit 2008 kam es zu mindestens acht Todesfällen von Extremsportlern im Zusammenhang mit Events oder Filmen im Auftrag von Red-Bull. Alexander Polli wird nicht von dem Brausehersteller gesponsert.

VON ANNIKA MÜLLER

Ich war absolut ruhig und entspannt“, sagt Alexander Polli über den Moment, als er mit 250 Kilometern pro Stunde und einem „Wingsuit“ genannten Fluganzug durch ein winziges Felsentor am Montserrat-Massiv in der Nähe von Barcelona flog. Nur sieben Meter maß das Nadelöhr am Roca Foradada, dem „durchlöcherten Fels“, das der 27-jährige italienisch-norwegische Extremsportler vom Helikopter aus anpeilte. In 700 Metern Höhe und 700 Metern Entfernung sprang er ab und schoss mit einer außergewöhnlichen Zielsicherheit durch das Loch. Ein Fehler wäre tödlich gewesen.

„Ich war hundertprozentig sicher, dass ich treffen würde“, sagt Polli, derzeit einer der Besten seiner Disziplin „proximity flying“, bei der versucht wird, möglichst nahe an Objekte wie Felswände und Bäume heranzufliegen. Bereits im vergangenen Jahr versetzte Polli durch seine Präzisionsflüge, bei denen er Ziele zentimetergenau anzufliegen wusste, die Szene in Aufregung. Zum Jahreswechsel flog er dann „zum Spaß“ durch ein Banner mit der Zahl 2013, das kaum breiter war als die Spannweite seiner Arme. „Ein solch kleines Ziel so treffsicher anfliegen zu können, hat mir sehr viel Zuversicht gegeben“, erklärt Polli. „Dann habe ich das Loch im Berg gesehen und wusste sofort: Dort will ich hindurchfliegen!“ Einige Male war er zu der Höhle, die er „Batman Cave“ taufte, hinaufgestiegen und hatte sie stundenlang betrachtet. Dann war er sich sicher, dass die Öffnung genau den richtigen Winkel hatte, um sie vom Helikopter aus anzupeilen.

„Angesichts meiner Flugfähigkeiten stellte dies keine allzu große Schwierigkeit dar“, sagt Polli über seinen Höhlenflug. Doch die Internetgemeinde zeigte sich beeindruckt vom Kunststück des Präzisionsfliegers. Das Video wurde auf YouTube neun Millionen Mal angesehen. Polli, der bislang nur Anhängern seines Minderheitensports bekannt war, wurde über Nacht zur Berühmtheit. „Ich hatte beim Fliegen nie die Öffentlichkeit im Sinn, sondern habe es nur für mich selbst getan“, erklärt der bescheidene Athlet und fügt hörbar gerührt hinzu: „Ich bin überwältigt von der großen Resonanz.“

Der Höhlenflug war für Polli eine persönliche Herausforderung, bei dem es weniger um die flugtechnische Schwierigkeit ging, als um die Überwindung der Angst. „Ja“, lacht Polli, „auch ich bin ein Mensch und habe Ängste, gewaltige sogar.“ Polli litt ursprünglich sogar unter Höhenangst. Vor seinem ersten „Skydive“ – einem Sport, bei dem Anfänger nur mit einem Fallschirm und Fortgeschrittene häufig mit dem „Wingsuit“, dem „Flügelanzug“, aus einem Flugzeug oder Helikopter springen, ohne dabei Hindernissen zu nahe zu kommen – sei er „fast gestorben“ vor Anspannung.

Doch Polli war von klein auf ein Experte für Selbstüberwindung: Als fünfjähriger Junge ging er mit dem Vater tauchen und fütterte die Haie, als Jugendlicher wurde er zum Snowboardprofi, bevor er sich den extremen Flugdisziplinen Skydiving, Basejumping und Wingsuit-Fliegen verschrieb.

„Für mich war es eine wichtige Erfahrung, den Film „Der Weiße Hai“ zu sehen, danach eine Nacht Alpträume zu haben und am nächsten Tag mit meinem Vater beim Tauchen einen Hai zu füttern“, erklärt Polli. Panisch habe er sich an seinen Vater geklammert. Doch als er hinterher den anderen Kindern davon erzählte, sei ihm klar geworden, wie privilegiert er war, diese fantastische Unterwasserwelt zu sehen. „Nicht auszudenken“, sagt er nachdenklich, „was aus mir geworden wäre, wenn ich mich der unbegründeten Angst vor Haien und meiner Höhenangst nicht gestellt hätte.“

Doch auch heute ist Polli nervös – wie immer, wenn er sich ein neues Ziel setzt. Am Morgen war Polli von Mailand aus, wo der Globetrotter eine kleine Wohnung hat, um vier Uhr morgens in die Berge gefahren und fünf Stunden bis zu einer potentiellen Abflugstelle gewandert. „Da hatte ich sofort wieder Zweifel.“ Um diese zu überwinden, wird er sich nun einen Monat lang vor allem mental vorbereiten – mit Meditation und Atemübungen, Yoga und Stretching. „Auch beim Fliegen selbst atme ich sehr bewusst durch die Nase. Ich nehme jeden einzelnen Atemzug ganz genau wahr und habe dadurch einen intensiveren Kontakt zu meinem Körper“, erklärt Polli eines seiner Geheimnisse.

Außerdem spiele er den Flug bis zu seiner Realisierung Hunderte Male im Kopf durch. „Ich tue dies, während ich unter der Dusche stehe oder beim Kaffeekochen.“ Einen Sprung einfach auszuprobieren, ist unmöglich. Jeder noch so winzige Fehler kann fatale Folgen haben. In dem Moment, in dem er sich im Helikopter sprungbereit mache, glaube Polli nicht nur, dass er es schaffen könne. „Ich bin felsenfest davon überzeugt.“

Braungebrannt, mit von der Sonne gebleichten blonden Haaren, gelassen und humorvoll – Polli verkörpert das Stereotyp des abenteuerlustigen Sonnyboys. Er ist der Typ Sportler, den insbesondere die Getränkefirma Red Bull gerne unter Vertrag nimmt, um durch extreme Videos und Events der Marke ein Image von Freiheit zu verleihen. Polli jedoch hat bisher alle Angebote von Sponsoren ausgeschlagen. „Das Fliegen ist für mich eine Privatangelegenheit und ich will niemandem etwas schuldig sein“, erklärt Polli. Er finanziert seinen extrem teuren Sport über Poker- und Glücksspiel und versucht nebenher ein kleines Modelabel mit Namen „Morals Arrivederci“ aufzubauen.

Er glaube, dass sich viele Athleten unter dem Druck der Sponsoren dazu hinreißen lassen, ein zu hohes Risiko einzugehen – was in letzter Zeit im Fall von Red Bull zu mehreren Todesfällen geführt hat. „Aber wer des Geldes wegen sein Leben riskiert, der tut dies aus dem falschen Grund“, gibt Polli zu bedenken.

Doch gibt es einen richtigen Grund, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen? „Wir müssen alle eines Tages sterben und dieser Gedanke sollte uns nicht dazu bringen, Risiken zu vermeiden, sondern dazu, Leidenschaften auszuleben. Leider ist in unserer Gesellschaft genau das Gegenteil gewünscht“, sagt Polli.

Die Gefährlichkeit seiner Aktivitäten werde ohnehin überschätzt. Polli führt zum Beleg seine gründliche Vorbereitung und langjährige Erfahrung ins Feld: Bevor er das erste Mal einen Basejump wagte, also einen Sprung von einer Felswand oder einem Berggipfel, hatte er bereits über 1.500 erfolgreiche Skydive-Sprünge absolviert. Erst nach weiteren zigtausend Sprüngen von der Felswand hat Polli sich dann den Wingsuit angezogen, um sich dem „proximity flying“ und den gefährlichen Hindernissen anzunähern. Dennoch betont er: „Es steht außer Frage, dass es sich um einen extrem risikoreichen Sport handelt.“

Die Fokussierung aufs Risiko ist für Polli die falsche Perspektive: Er sieht vielmehr den uralten Menschheitstraum vom Fliegen Realität werden – mit Hilfe der entsprechenden Technologie und sehr langem Training. Dies erleben zu dürfen, mache ihn „zum glücklichsten Menschen der Welt“.