„Sie werden gut leben können“

MISSION Madjiguène Cissé war Sprecherin der Sans Papiers in Paris. Zurück in Dakar gründete sie ein Frauennetzwerk – das gerade eine Frauensiedlung aufbaut

Madjiguène Cissé: 1951 wurde die Germanistin in Dakar geboren. In den Neunzigern war sie Sprecherin der Sans-Papiers in Frankreich. Zurück im Senegal hat sie die Frauenorganisation Refdaf gegründet. Deren wichtigste Projekte: ökonomische Starthilfe mit fast zinslosen Mikrokrediten, Frauenmarkthallen und eine Frauensiedlung.

Frauensiedlung: Derzeit beginnen die Frauen, die ersten Häuser in der Frauensiedlung in Dakar zu bauen. Sie arbeiten nachhaltig mit traditionellen Materialien und Solarenergie – weil sie ihre Produkte dann selbst verwalten.

Sans-Papiers: Im März 1996 besetzten 300 AfrikanerInnen in Paris die Kirche Saint-Bernard. Sie waren ohne gültige Aufenthaltspapiere und verlangten, in Frankreich anerkannt zu werden. Das war der Einstieg in die Sans-Papiers-Bewegung, die bis heute aktiv ist. Auch in Deutschland. Hier leben bis zu 1,5 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus.

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Cissé, Sie haben in Ihrem Leben eine ganz persönliche Rallye Dakar–Paris–Dakar gemacht. In Dakar geboren, gingen Sie nach Paris, engagierten sich dort erfolgreich bei den Sans Papiers und sind nun wieder in Dakar. Wie leben Sie heute?

Madjiguène Cissé: Wie ich heute lebe in Dakar, damit bin ich zufrieden, obwohl die Welt nicht so schön ist. Aber ich tue, was ich kann, damit sie schöner wird.

Wie wird sie schöner?

Die Armut dürfte nicht so hart sein. Leute sollten zu essen haben. Kranke sollten sich heilen lassen können. Und Kinder sollten zur Schule gehen können. Das alles müsste in unserem Land, dem Senegal, möglich gemachtwerden.

Irgendetwas Schönes wird es doch auch jetzt schon geben. Wie ist Dakar?

Dakar hat große Armut, aber es hat auch das Meer und den Wind und die Fische aus dem Atlantik. Die Stadt ist ganz lebendig. Drei Millionen Menschen wohnen da. Es werden immer mehr.

Dort haben Sie das Frauennetzwerk für nachhaltige Entwicklung in Afrika, Refdaf heißt es, gegründet. Mehr als zehntausend Frauen gehören mittlerweile dazu. Was machen Sie?

Wir verbessern die Lebensbedingungen von Frauen im Senegal. Viele Frauen sind Analphabetinnen. Viele kämpfen jeden Tag für ihr Essen. Wir unterstützen sie mit Mikrokrediten, damit sie ökonomische Aktivitäten unternehmen können. Viele Frauen verdienen ein wenig Geld, indem sie Lebensmittel verkaufen. Deshalb verhandeln wir jetzt mit dem Magistrat, weil wir eine Frauenmarkthalle in Dakar etablieren wollen. Damit Frauen größere Mengen lagern und verkaufen können. Mit größeren Mengen können sie etwas mehr Geld verdienen. Austauschraum nennen wir dieses Projekt. Außerdem gründen wir eine Frauensiedlung in der Hauptstadt. Im Januar haben wir angefangen, die ersten Häuser dort zu bauen. Ganz einfache Häuser sind das. Die Frauen bauen selbst.

Eine Frauensiedlung – wozu wird diese gebraucht?

Bei einer Frauenversammlung in Dakar ist die Idee mit der Frauensiedlung entstanden. Die Frauen sagten, ihr habt uns Geld geliehen, damit wir Handel betreiben können. So können wir überleben. Aber wir wohnen unter schlimmen Bedingungen. Ganze Familien nur in einem Zimmer ohne Strom, ohne Wasser. Was kann das Netzwerk tun?

Warum muss es eine Frauensiedlung sein?

Wir sagen: Un toit, c’est un droit – ein Dach ist ein Recht. Aber nur ein Prozent der Frauen im Senegal haben eine eigene Wohnung. Das ist sehr wenig. Wir haben mit dreihundert Frauen, die ein Grundstück kaufen möchten, vor ein paar Jahren eine Wohnkooperative gegründet und sie mit Mikrokrediten unterstützt, damit sie ökonomische Aktivitäten entwickeln und allmählich Geld sparen können. Jetzt ist es so weit, dass die ersten hundert Parzellen für die Frauen gekauft werden konnten, auf einem Grundstück, das die Stadt Dakar für die Wohnbebauung entwickelt hat – mit Wasserzugang und Strom. Eine Parzelle kostet ungefähr 1.500 Euro.

Sollen nur Frauen da wohnen?

Nein. Aber die Häuser gehören den Frauen. Das macht ihr Leben sicherer. Sie können nicht ihr Dach über dem Kopf verlieren, wenn die Männer sich scheiden lassen und andere Pläne haben. Und die Häuser stehen zusammen, so dass sich die Frauen unterstützen können.

Das Frauennetzwerk ist nicht das Einzige, was Sie gemacht haben. Sie hatten schon viele verschiedene Leben – zum Beispiel als Sans Papiers, als Papierlose in Paris.

Jeder kann verschiedene Leben haben. So verstehe ich das. Jetzt koordiniere ich das Frauennetzwerk. In den Siebzigern war ich in Saarbrücken Studentin. Geboren bin ich in Dakar im Senegal und dort zur Schule gegangen.

War es selbstverständlich, dass Sie zur Schule gehen konnten?

Ich bin in einem armen Viertel geboren. Glücklicherweise war mein Vater fortschrittlich: Alle Kinder müssen zur Schule, sagte er.

Konnten Ihre Eltern lesen und schreiben?

Mein Vater hat es sich selbst beigebracht. Er kam vom Dorf, hatte ein bisschen Abenteuerlust und ging in die Großstadt, die damals nicht so groß war. Er konnte den Führerschein machen. Während der Kolonialzeit war er dann Schulbusfahrer für französische Kinder. Das hat ihn vielleicht ein wenig motiviert für die Bildung der Kinder. Meine Mutter wollte nicht, dass ich zur Schule gehe. Sie kam auch aus einer armen Dorffamilie. Das war ja noch vor dem Zweiten Weltkrieg, als die beiden nach Dakar gingen. Da konnte sie nicht verstehen, dass ein Mädchen zur Schule gehen soll.

Was war das für eine Schule?

Die französische Schule, wo mein Vater die Kinder hinfuhr. Es gab nur diese. Ich kam 1958, zwei Jahre vor der Unabhängigkeit des Senegal, zur Schule. Als Senegalesen durften wir keine einheimische Sprache sprechen in der Schule und es gab nur französische Lehrer. Aber ich war eine gute Schülerin. Sobald ich schreiben konnte, habe ich den Leuten in unserem Viertel geholfen beim Briefeschreiben. Und den Kindern, die nicht zur Schule gingen, habe ich Lesen beigebracht. Nachts auf der Straße bei Kerzenlicht. Strom gab es noch keinen.

Hat da Ihr soziales Engagement begonnen?

Soziale Gedanken sind mir früh gekommen. Das lag an dem armen Viertel, wo wir wohnten. Weil ich die Leute immer beobachtet habe und nicht verstehen konnte, warum sie so arm waren. Ich habe gesehen, dass die Frauen den ganzen Tag arbeiten. Sie kochen, sie holen Wasser, sorgen für die Kinder. Und die meisten Männer waren Handwerker oder arbeiteten in den Fischfabriken, aber die verdienten sehr wenig. Das fand ich schockierend, diese Armut. Das hat mich politisiert. Deshalb habe ich immer weiter Unterricht gegeben, auch als ich auf dem Gymnasium und an der Universität war.

Was haben Sie studiert?

Es wurde damals gerade die deutsche Abteilung an der Universität in Dakar eröffnet. Ich habe zwei Jahre da Germanistik studiert und zwei Jahre in Saarbrücken.

Wie war das?

Ich war vorher nie aus dem Senegal, noch nicht einmal richtig aus Dakar rausgekommen. Ich flog zum ersten Mal. 1974 war das. Das war der erste Schock. Und dann kam ich im Sommer an. Das war schön, aber ich fand es so komisch, dass die Sonne nicht unterging. Wann kommt die Nacht, wann kommt die Nacht – habe ich die ersten Tage immer gefragt. Und dann hat mich erschrocken, wie die Leute sprachen. Saarländisch, das war ein Schock. Gudd Morje, hand Se guud geschloofe?

Wie haben Sie es trotzdem ausgehalten?

Ich passe mich schnell an. Das ist mein Temperament. Ich liebe die Leute, und egal, wo ich bin, in Dakar, in Paris, in Saarbrücken, es ist mir immer gelungen, mit Leuten in Kontakt zu treten. Ich werde oft gefragt, hast du keinen Rassismus angetroffen? Dann wundert man sich, wenn ich Nein sage. Wahrscheinlich weil ich immer guten Kontakt gehabt habe mit den Leuten.

Haben Sie etwas lieb gewonnen in Deutschland?

Von der Literatur den Schimmelreiter. Er will was für andere machen, was er richtig findet. Und sowieso die deutsche Sprache. Zwei Jahre war ich in Saarbrücken. Dann bin ich zurück in den Senegal und wurde Deutschlehrerin in Dakar am selben Gymnasium, wo ich zur Schule gegangen war. Aber den armen Kindern habe ich immer weiter Schreiben und Lesen beigebracht. Und den Frauen, die Analphabetinnen waren.

Wie kam es dann, dass Sie 1996 nach Frankreich gingen?

Ich habe lange unterrichtet, aber wegen dem Kreidestaub hatte ich immer Asthmaanfälle. Das war schlimm. Als meine Tochter nach dem Abitur nach Paris zum Studium ging, bin ich mitgefahren. Im März 1996 fing gerade die Bewegung der Sans Papiers, der Leute ohne Aufenthaltspapiere, in Frankreich an. Meine Tochter sah das im Fernsehen und sagte: Mama, da haben Afrikaner eine Kirche besetzt und verlangen, dass sie anerkannt werden. Am nächsten Tag ging ich hin und blieb vier Jahre. Ich habe verstanden, dass ich da etwas tun kann, um die Welt schöner zu machen.

Wurden Sie selbst eine Sans Papiers?

Nachdem meine Papiere abgelaufen waren, wurden sie nicht mehr verlängert. Die Polizei verlangte immer, dass ich aufhöre, bei den Sans Papiers mitzumachen. Dann würden sie meine Papiere verlängern. Kommt nicht in Frage, habe ich gesagt.

Warum war die Bewegung der Sans Papiers wichtig?

Weil die Sans Papiers mich an die Armut erinnert haben, in der ich aufgewachsen war. Und vielleicht habe ich da verstanden, warum die Leute damals so arm waren.

Warum?

Sie waren arm, weil unsere Länder ökonomisch und politisch abhängig waren. Frankreich als Kolonialmacht hat die Interessen von Frankreich bei uns verteidigt. Zum Beispiel hat die Landwirtschaft nicht für die senegalesische Bevölkerung Nahrungsmittel produziert, sondern für die französische. Statt Hirse und Reis und dem, was die Bevölkerung in Afrika ernährt, wurden Erdnüsse für den Export angebaut. Nach der Unabhängigkeit 1960 ging das weiter.

Wobei die politischen Turbulenzen im Senegal sich nach der Unabhängigkeit in Grenzen hielten.

Das ist vielleicht das Schlimmste.

Wieso?

Frankreich ging und blieb. Frankreich konnte gehen, weil es gut vertreten war bei der neuen senegalesischen, schwarzen Bourgeoisie, die immer reicher wurde und die Frankreichs Interessen verteidigte. Das ist das Schlimmste meiner Meinung nach. Es gibt einen Witz: Ein paar Jahre nach der Unabhängigkeit fragten sich die Leute: Wann geht diese Unabhängigkeit endlich zu Ende?

Wie haben Sie diese Zusammenhänge dann bei den Sans Papiers thematisiert?

Schauen Sie, der damalige französische Innenminister kam zu uns in die Kirche und sagte: Nein, das kommt nicht in Frage, dass Leute ohne gültige Aufenthaltspapiere hier bleiben. Diese Leute müssen alle abgeschoben werden. Da habe ich gesagt: Aber Monsieur Debré, die Sans Papiers, die fallen nicht vom Himmel. Jeder von denen hat eine Geschichte und die ist mit Frankreich verbunden. Die Afrikaner, die die Kirche Saint-Bernard besetzt hatten, die kommen fast alle aus ehemaligen französischen Kolonien. Es ist doch kein Zufall, dass wir frankophone Sans Papiers heute in Frankreich sind. Die Armut treibt die Leute dazu, ihre Länder zu verlassen.

Wie wurden Sie Sprecherin der Sans Papiers?

Gleich am ersten Tag, als ich da war, habe ich zwei Versammlungen organisiert. Sie hatten den ältesten Besetzer zu ihrem Sprecher gemacht. Ich habe sofort gesehen, dass er es nicht alleine schafft. Ich schlug ein Team von Sprechern vor, in dem auch Frauen sein sollten. Nein, nein, Frauen nicht, war die erste Reaktion.

Woher kommt Ihre Parteinahme für die Frauen?

In der besetzten Kirche Saint-Bernard haben auch Männer feststellen müssen, wie wichtig die Frauen in diesem Kampf der Sans Papiers waren. Die Männer sagten oft: Vielleicht sollten wir es lassen und zurückgehen in die Heimat. Aber da sagten die Frauen: Nein, wir haben angefangen und wir werden weitermachen. Wenn ihr Männer gehen wollt, geht. Wir bleiben hier. Ohne die Frauen hätten wir es am Ende nicht geschafft, dass die Sans Papiers damals fast alle legalisiert wurden.

Vier Jahre lang waren Sie bei den Sans Papiers. In der Zeit waren Sie Demonstrantin, Putzfrau, Gefangene, Streitschlichterin, auf Bewährung Verurteilte und Preisträgerin – Sie haben die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Liga für Menschenrechte erhalten.

Ja, ich war das alles. Sogar Hebamme war ich. Einmal brachte eine der Besetzerinnen in der Kirche ihr Kind zur Welt. Madjiguène, komm, komm, riefen die Frauen.

Im Jahr 2000 sind Sie in den Senegal zurück. Warum?

Ich wollte schon viel früher nach Hause. Ich war ja nicht nach Paris gefahren, um dort vier Jahre zu bleiben.

Und dann?

Als ich zurückkam, sind die Frauengruppen, die ich früher unterstützt hatte, gekommen und haben gesagt, wir sind stolz auf dich. Wir haben immer Fernsehen geguckt. Das war toll, wie ihr den Protest organisiert habt. Und da haben sie gefragt: Aber was machen wir jetzt? Da kam die Idee, alle diese Gruppen zu vernetzen und das Frauennetzwerk für nachhaltige Entwicklung in Afrika zu gründen.

Das klingt alles so einfach. Wie gelingt es Ihnen, die Frauen über so lange Zeiträume zu motivieren?

Die Frauen sind motiviert, weil sie ihre Interessen darin wiederfinden. Sie wissen, am Ende werden sie was für sich haben. Wenn es uns gelingt, die Frauensiedlung und die Austauschräume aufzubauen, dann werden Frauen wirklich finanziell unabhängig vom Staat und den Männern. Sie werden gut leben können und ihre Kinder zur Schule schicken können.

Wenn man Sie hört, hat man den Eindruck, nur die Frauen tun was.

Ja, die Männer machen nicht viel. Die Frauen arbeiten viel. Auch in der Landwirtschaft, obwohl sie kein Land besitzen. Wenn ich in die Regionen fahre, dann sehe ich nur Frauen auf den Feldern. Im Reisanbaugebiet, da stehen nur Frauen im Wasser. In den Tomatenfeldern im Norden, da arbeiten nur Frauen auf Feldern, die ihnen nicht gehören.

Erfinden Sie die Ökonomie neu aus der Perspektive von Frauen?

Männer haben im Senegal seit fünfzig Jahren die Macht. Und da sehen wir die Ergebnisse. Es ist Zeit, Frauen endlich Erziehung und Ausbildung zu garantieren und ihnen auch Verantwortung zu übertragen. Wenn genügend Frauen in jeder Instanz vertreten sind, dann können wir sagen, Afrika hebt den Kopf aus dem Wasser.

Sie meinen, Frauen in Afrika haben nichts zu verlieren?

Ja, das meinen wir.

Waltraud Schwab ist sonntaz-Reporterin und Feministin