Geständnisse, die niemand hören will

Der Lübecker Brandanschlag vor zehn Jahren wird als ungelöst in die Geschichte eingehen. Ein angeklagter Libanese wurde freigesprochen. Einem Tatverdächtigen aus Grevesmühlen, der sich und drei Freunde mehrfach beschuldigt hatte, wurde gerichtlich verboten, ein Geständnis abzulegen

„Die Überlebenden leiden darunter, dass niemand für die Tat verantwortlich gemacht wurde“Einer wurde wegen des Abfackelns eines Hundes verurteilt. Damit hatte er seine Brandspuren erklärt

Von Elke Spanner

Dass jemandem per Gericht verboten wird, ein Geständnis für ein Verbrechen abzulegen, dürfte in der deutschen Rechtsgeschichte ein einmaliger Vorgang sein. Maik W. wundert sich selbst darüber, dass er niemals für den Tod von zehn Menschen und die schweren Verletzungen von 38 weiteren ins Gefängnis kam. Mehrfach hat er sich und drei Freunde bezichtigt, am 18. Januar 1996 die Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße angezündet zu haben: vor einem Gefängniswärter, vor Journalisten, vor der Staatsanwaltschaft. Das Amtsgericht Neustrelitz hat ihm das im Februar 2000 schließlich untersagt und ihn zu sechs Monaten Haft verurteilt. Weil er mit seinem Geständnis auch andere belastete. „Falsche Verdächtigung“ heißt das Delikt. Für den Brandanschlag hingegen wurde bis heute, genau zehn Jahre nach der Tat, niemand zur Verantwortung gezogen. Der Fall gilt als ungelöst.

Gabriele Heinecke kennt noch immer jedes Detail aus den Akten. Die Hamburger Rechtsanwältin braucht nicht einmal nachzublättern, um die ermittelten Geschehnisse auf die Minute genau nachzuerzählen. Am Freitag wird sie in Lübeck wieder einmal auf einem Podium sitzen, um ein weiteres Mal die Geständnisse von Maik W. mit Indizien zu untermauern. Sie wird von versengten Haaren berichten, welche die Polizei bei dem damals noch Jugendlichen aus Grevesmühlen und seinen Kumpels am Tatort festgestellt hat. Sie wird daran erinnern, dass die Staatsanwaltschaft den Freunden aus Mecklenburg-Vorpommern ein Alibi für den Tatzeitpunkt attestierte, obwohl dieser niemals exakt bestimmt werden konnte. Sie seufzt. „Die Überlebenden des Brandanschlages“, sagt Heinecke, „leiden sehr darunter, dass niemals jemand für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich gemacht wurde.“

Heinecke hat damals den Libanesen Safwan Eid verteidigt, den die Lübecker Staatsanwaltschaft für den Täter hielt. Zwei Mal wurde er frei gesprochen, erst vor dem Landgericht in Lübeck, nach der Revision vor einer Kammer in Kiel. Noch heute lebt Eid in Lübeck. Mit den Medien spricht er nicht mehr. Einerseits, sagt Heinecke, würde er gerne öffentlich daran erinnern, dass die wahren Täter frei herumlaufen, dass sie zehn Menschen auf dem Gewissen und im eigenen Leben keinerlei Konsequenzen zu tragen haben. Andererseits will er mit diesem Anschlag nicht noch einmal in Verbindung gebracht werden.

An seiner Person hatte sich vor zehn Jahren ein ideologischer Diskurs entfacht. Vor dem Brand in Lübeck waren in Mölln und Solingen Migranten bei rassistisch motivierten Anschlägen ums Leben gekommen. So wurde ein ausländerfeindlicher Hintergrund auch hier sofort vermutet. Wer den Hausbewohner Eid für den Täter hielt, war dem Vorwurf ausgesetzt, einen rassistischen Kontext zu leugnen und deutsche Tatverdächtige reinzuwaschen. Wer an Eids Unschuld glaubte, musste sich vorhalten lassen, aus politischen Motiven nicht wahrhaben zu wollen, dass Ausländer sich gegenseitig anzünden könnten.

Derart ideologisch aufgeladen, trug vor allem der erste Prozess gegen Eid Züge eines Machtkampfes zwischen den Beteiligten, wie es vor Gericht selten so unverhohlen zu erleben ist. Eids zweite, allmorgendlich aus Hannover anreisende Verteidigerin musste sich vom um die Ecke wohnenden Staatsanwalt ankeifen lassen, als sie wegen schlechter Zugverbindungen nicht pünktlich um 9 Uhr im Gericht eintraf. Je öfter die Verteidigerinnen der Staatsanwaltschaft vorwarfen, einseitig gegen Safwan Eid zu ermitteln, desto stärker blockte diese andere Spuren ab. Das gipfelte darin, dass die Ermittler selbst dann noch über die Brandspuren der Grevesmühlener spekulierten, nachdem ein Gutachter des Landeskriminalamtes den Vortrag der Vier für absurd erklärt hatte. Sie könnten sich beim Aufknacken eines Autos verbrannt haben, mutmaßte der damalige Staatsanwalt Michael Böckenhauer, ohne dass die Männer selbst sich jemals darauf berufen hätten.

Maik W., Dirk T., Rene B. und Heiko P., die von der Polizei nahe des Tatortes aufgegriffen worden waren, hatten ihre eigenen Erklärungen für die frischen Brandspuren in ihren Gesichtern. Sie wollen Tage zuvor wahlweise einen Hund angezündet, einen Ofen falsch befeuert oder per Feuerzeug eine Stichflamme an einem Benzinkanister verursacht haben. Trotz der Widersprüche kamen sie einen Tag nach der Festnahme wieder frei. Ein Tatverdacht gegen sie bestehe nicht, teilten die Ermittler mit, weil sie zur vermuteten Tatzeit an einer sechs Kilometer entfernten Tankstelle gewesen seien.

Später stellte sich heraus, dass Maik W. nur zwei Wochen vor dem Anschlag einem Kumpel erzählt hatte, er wolle in Lübeck „etwas anstecken“. Ein Jahr später wurde „Klein-Adolf“ – wie sich der bekennende Rechte Maik W. gerne von seinen Freunden nennen ließ – in Güstrow von einem Verkäufer beim Ladendiebstahl erwischt. Als der ihm mit der Polizei drohte, konterte W.: „Die kann mir gar nichts. Ich war sogar beim Brandanschlag in Lübeck dabei.“ 1998 saß W. wegen mehrerer Autoaufbrüche in Neustrelitz im Knast. Am 22. Februar vertraute er einem Abteilungsleiter an, zusammen mit Dirk T., Heiko P. und Rene B. das Feuer in Lübeck gelegt zu haben. Detailliert berichtete er, wie sie zur Flüchtlingsunterkunft gefahren seien, weil zwei der Freunde mit einzelnen Bewohnern Streit um Drogengeschäfte hatten. Wie er Schmiere stand, während die anderen sich am Gebäude zu schaffen machten. Diese Einlassung wiederholte er tags darauf gegenüber Kripo-Beamten. Drei Tage später widerrief er sein Geständnis. „Eine Wende in dem Verfahren“, teilte Staatsanwalt Klaus-Dieter Schultz umgehend mit, „gibt es nicht. Die Spur ist abgearbeitet.“

Im Juli 1998 hat Maik W. ein Interview im Spiegel gegeben. Dort teilt er seine Verwunderung darüber mit, dass ihm seine Selbstbezichtigungen nie geglaubt wurden. Über das Gespräch mit Kripobeamten in der JVA Neustrelitz, bei dem er sein Geständnis widerrief, sagte er: „Ich hatte gleich das Gefühl, die wollten von all dem nichts wissen – vielleicht, weil es nur Arbeit macht, den Fall noch einmal aufzurollen.“ Gegenfrage des Spiegel: „Bleiben Sie jetzt dabei, auch wenn Sie sich damit selbst belasten: Sie und Ihre drei Freunde haben das Heim angezündet?“ Antwort: „Ja, weil es Stress mit Leuten im Heim gab.“ Dann folgt eine ausführliche Schilderung des Tathergangs.

Dass die Ermittler die Grevesmühlener für unschuldig erklärten, begründen sie mit zwei Aspekten. Zum einen hat die Staatsanwaltschaft stets daran festgehalten, dass das Feuer im Inneren des Hauses, im 1. Stock ausgebrochen sei – obwohl zwei Sachverständige vor Gericht dagegengehalten hatten, dass zumindest ein Brandausbruchsort im von außen zugänglichen Vorbau im Erdgeschoss gewesen sein müsse. Hauptargument gegen die Täterschaft der Grevesmühlener war zweitens deren angebliches Alibi – auf das sie sich selbst schon lange nicht mehr berufen. Polizisten hatten nach der Brandnacht zu Protokoll gegeben, den Wartburg der Grevesmühlener gegen 3.15 Uhr an einer sechs Kilometer entfernten Tankstelle gesehen zu haben. Gegenüber dem Spiegel sagte Maik W. selbst, als sie damals tanken waren, „da hat das Haus schon längst gebrannt“.

All diese Widersprüche hätte man nur an einem Ort aufarbeiten können: In umfassender Beweisaufnahme vor Gericht. Doch angeklagt wurden die jungen Männer aus Grevesmühlen nie. Nur für einen von ihnen hat die Brandnacht juristische Folgen gehabt: Das Amtsgericht Grevesmühlen verurteilte Dirk T., der behauptet hatte, sich die Sengspuren im Gesicht beim Abfackeln eines Hundes zugezogen zu haben, im Januar 1998 zu zehn Monaten Haft auf Bewährung wegen Tierquälerei.