Die Krise ist doch überall

CANNESCANNES 4 Von Umbrüchen erzählen, von Schutzgelderpressern träumen: neue Filme von Jia Zhangke und Amat Escalante in Cannes

Jia Zhangke ragt aus dem bisherigen etwas schlichten Wettbewerbsprogramm weit heraus

VON CRISTINA NORD

Xiao Hui, ein junger Wanderarbeiter, trifft auf der Straße einen Freund. „Hast du schon mal daran gedacht, wegzugehen?“, fragt er. – „Wohin denn?“ – „Ins Ausland natürlich.“ – „Die Krise ist doch überall. Willst du einen Beweis? Die Ausländer kommen nach Chengguan.“ Eine Einstellung vorher sieht man, wie drei Schwarze, an einen Baum gelehnt, Xiao Hui freundlich mit „hola“ begrüßen.

China ist ein Land im Umbruch, und Jia Zhangke ist der Regisseur, der die Folgen der gesellschaftlichen Umwälzungen fürs Kino erforscht – mit großer Hartnäckigkeit und ohne den Sinn für Schönheit zu verlieren. Filme wie „Still Life“ (2006), „The World“ (2004) oder „Unknown Pleasures“ (2002) künden von seiner Sensibilität für die Nöte und Härten, mit denen sich viele Chinesen konfrontiert sehen. Das heißt nicht, dass sich Jia Zhangkes Filme mit einem realistischen Abbild begnügten; sie haben zwar den Anschein, wirklichkeitsnah zu sein, zugleich arbeiten sie aber immer wieder mit plötzlichen Einbrüchen des Fantastischen, bis hin zum Start eines Ufos in „Still Life“.

Charmante Kombination

In Jia Zhangkes jüngster Arbeit, „A Touch of Sin“, verhält es sich ähnlich, und damit ragt der Film aus dem bisherigen etwas schlichten Wettbewerbsprogramm weit heraus. Er probt eine charmante Kombination: Er beobachtet den Alltag sogenannter kleiner Leute, vier an der Zahl. Der Film schweift von einem zum anderen und verwendet keine Energie darauf, irgendwie enger geartete Verbindungen zwischen ihnen zu stricken, eine flüchtige Begegnung im Überlandbus oder auf einer Landstraße reicht, um von einem Protagonisten zum nächsten überzugehen.

Arbeitsverhältnisse geraten in den Blick; lange habe ich keinen Film mehr gesehen, in dem so viele Fabrikszenen vorkommen. Das alles reichert sich mit Elementen der Groteske und des Gangsterkinos an. Takeshi Kitano war an der Produktion beteiligt, deshalb nimmt es nicht wunder, dass bisweilen mit Blut geradezu gemalt wird. Außerdem spielen Tiere, ein Tiger, mehrere Schlangen, ein Pferd, eine Gans und ein Affe, an entscheidenden Momenten der Geschichte eine große Rolle. Die Digitalkamera von Yu Lik-wai tut das Ihre, um eine realistische Anmutung mithilfe von Unschärfen und leuchtender Farbigkeit zu unterlaufen.

Während Jia Zhangke die schnöde Wirklichkeit an seiner Fantasie bricht, entscheidet sich der junge mexikanische Regisseur Amat Escalante für die realistische Abbildung (die ja, die tolle Filmkritikerin Frieda Grafe hat’s in einem Essay namens „Realismus ist immer Neo-, Sur-, Super-, Hyper-“ beschrieben, eine prekäre Sache ist). Sein im Norden Mexikos angesiedelter Wettbewerbsbeitrag „Heli“ handelt von einer Familie, die ohne ihr Verschulden in die Fänge korrupter Polizisten und eines Drogenkartells gerät. Escalante zeigt auf drastische Weise, wie die Narcos foltern.

Zur Drogenkultur in Mexiko gehört es, Gewalt zum Spektakel zu machen; Angehörige des gegnerischen Kartells, Menschenrechtsaktivisten oder Reporter werden nicht nur getötet, sie werden verstümmelt und dann in der Öffentlichkeit drapiert, damit alle es sehen. „Heli“ setzt diese Strategie in einigen Szenen recht naiv fort, was vermutlich dem Kalkül eines jungen Regisseurs entspringt, der gern schocken möchte.

Am regnerischen Donnerstag treffe ich einen Verleiher aus Berlin; wir unterhalten uns darüber, was es bedeutet, wenn man als Festivalbesucher Tag für Tag Filme sieht, in denen Gewalt exzessiv dargestellt wird.

Ich nahm ein Messer

Seine These lautet, dass man sich der akkumulierten Bilder wegen nach ein paar Tagen unwohl fühle. Bei mir machte sich die Wirkung von „Heli“ noch in derselben Nacht bemerkbar. Ich träumte, ein Kommando von Schutzgelderpressern statte mir einen Besuch ab. Merkwürdigerweise blieb ich ganz ruhig. Ich nahm mir ein Messer und zerschnitt damit die Seiten eines dicken Buchs. Ich war felsenfest überzeugt, die Papierfetzen als Waffe nutzen zu können, sobald es ernst würde.