Stockholm in Aufruhr

SCHWEDEN Auslöser für die schweren Krawalle in mehreren Vororten ist ein Polizeieinsatz mit tödlichem Ausgang. Jetzt laufen Ermittlungen

„Der Vorort Husby wurde die letzten Jahre im Stich gelassen“

TAGESZEITUNG „AFTONBLADET“

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

In zehn Vororten der schwedischen Hauptstadt Stockholms brannten in der Nacht zum Mittwoch Autos und Container, es wurden Fenster zerschlagen und Polizisten mit Steinen beworfen. In Husby wurden ein Kulturzentrum und eine Schule angezündet, in Jakobsberg eine Polizeistation verwüstet. Acht Verdächtige, vorwiegend Jugendliche, teilweise minderjährig, wurden festgenommen. Justizministerin Beatrice Ask sprach von einer „sehr ernsten Situation“.

Ausgebrochen waren die Unruhen am Sonntagabend im Vorort Husby. Auslöser war offenbar ein Polizeieinsatz sechs Tage zuvor. Ein Mann hatte von einem Balkon aus mit einem Messer gedroht. Ein Einsatzkommando war in die Wohnung eingedrungen und hatte den 69-jährigen erschossen. Angeblich in Notwehr. „Megafonen“, eine 2008 gegründete Selbsthilfeorganisation, warf der Polizei Rassismus vor: Ein messerbewaffneter 69-jähriger „Karl-Erik“ in einem Villenvorort hätte eine Polizeistreife auf den Plan gerufen. Derselbe 69-jährige „Ahmed“ in Husby sei durch eine schwerbewaffnete Spezialeinsatzgruppe vorbeugend hingerichtet worden.

Weder Medien noch Politik reagierten, als Megafonen eine Untersuchung des polizieilichen Vorgehens forderte. Reagiert wurde erst, nachdem am Pfingstsonntag in Husby Autos brannten. Gleichzeitig verschärften Brutalität und Rassismus der Polizeibrutalität die Situation. Als sich aus einer zunächst friedlichen Versammlung einzelne Gewalttaten entwickelten, rückte ein Polizeiaufgebot an und sperrte weite Teile des Zentrums ab. Angebote von Eltern und Mitgliedern einer Nachbarschaftshilfe, die Situation durch Gespräche mit den Jugendlichen zu deeskalieren, sollen von den Beamten mit Beschimpfungen wie „Ratten“ und „Neger“ beantwortet worden sein. Vermittlungswillige und unbeteiligte Passanten wurden teilweise mit Schlagstöcken bedroht. Mittlerweile gibt es ein Ermittlungsverfahren, um diese Vorwürfe zu untersuchen.

„Die Frustration ist zu verstehen“, kommentiert das Stockholmer Aftonbladet: „Husby wurde die letzten Jahre im Stich gelassen.“ 83 Prozent der 12.000 EinwohnerInnen sind ausländischer Herkunft. Die Arbeitslosenrate ist doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Hauptstadt, 40 Prozent der 18- bis 25-Jährigen sind ohne Ausbildung bzw. Arbeit. Das Durchschnittsgehalt ist 40 Prozent niedriger als im Rest-Stockholm, der Anteil von Sozialhilfebeziehern rekordhoch.

Sieben Jahre Politik einer Mitte-rechts-Regierung mit vier Steuersenkungsrunden für Gutbetuchte bei gleichzeitigem Abbau des öffentlichen Sektors machen sich auch in Husby bemerkbar. Gesundheitszentrum und Jugendtreffpunkt wurden geschlossen, Schulen vernachlässigt. „Die verlorene Hoffnung brennt“, titelt die linke Internationalen. In der vergangenen Woche veröffentlichte die OECD Zahlen, wonach Schweden das westliche Industrieland ist, in dem seit den 1990er Jahren die Einkommensunterschiede am stärksten gewachsen sind.

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