Die Angst vor der Eins

SPD Die Berliner Sozialdemokraten beschäftigt vier Monate vor der Bundestagswahl vorwiegend die Frage, wie lange Klaus Wowereit noch Regierender bleibt. Ein Sturz unter die magische 20-Prozent-Marke könnte seinen Fall beschleunigen

Wenige Wochen vor den Sommerferien und Zeugnissen löst eine mögliche Eins normalerweise kein Unbehagen aus. Anders ist das bei der SPD und ihrem Parteitag an diesem Samstag – wenn nämlich diese Eins nicht allein steht, sondern erster Teil einer Prozentangabe ist. Nie blieb die Berliner SPD bei einer Wahl bisher unter 20 Prozent. Das aber droht den Sozialdemokraten im September. Bei nur 21 Prozent sah sie jüngst eine Umfrage zur Bundestagswahl – in jener Stadt, in der Willy Brandt für die SPD einst 61,9 Prozent holte.

Schon bei der vergangenen Bundestagswahl vor vier Jahren blieb die Partei mit 20,2 Prozent nur knapp über dieser Trauma-Grenze. Obwohl die SPD in Berlin damals deutlich klarer verlor als bundesweit, hielt sich die Selbstkritik in Grenzen. Dieses Mal dürfte das anders sein. „Unter 20 Prozent wäre ganz bitter“, ist bei den Sozialdemokraten zu hören.

Laut Tagesordnung geht es am Samstag beim Parteitag im Neuköllner Estrel-Hotel um die SPD-Landesliste für die Bundestagswahl. Die hat umso mehr Bedeutung, weil es nicht ausgeschlossen ist, dass die Sozialdemokraten keinen einzigen der zwölf Berliner Wahlkreise gewinnt (siehe Text links) und dann die Landesliste die einzige Möglichkeit bietet, doch noch in den Bundestag zu kommen. Für Platz eins kandidiert Eva Högl, die Abgeordnete aus Mitte, dahinter ihr Kollege Swen Schulz aus Spandau. Sie stehen auf einer Vorschlagliste des Landesvorstands für den Parteitag. 2009 gab es keine solche Empfehlung. Dass das nun anders ist, gilt als Versuch von Landeschef Jan Stöß, alle relevanten Lager zufrieden zu stellen – vor allem jene, die seine Wahl zum Vorsitzenden stützten.

Doch auch in den Monaten vor der Bundeswahl dominiert ein Landesthema alles andere: Die Frage nach der Zukunft des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit. Die Spekulationen überschlagen sich: Jüngst kündigte eine Zeitung unter Berufung auf SPD-Quellen an, er werde noch vor der Wahl abtreten – was sofort dementiert wurde.

Beliebtester Politiker auf SPD-Seite ist in Umfragen Finanzsenator Ulrich Nußbaum. Doch der hat kein Parteibuch und keinen Rückhalt im Landesverband. Ihn zum Wowereit-Nachfolger zu machen, würde sogar die Kandidatur von Peer Steinbrück auf Bundesebene toppen, der ebenfalls ein distanziertes Verhältnis zu großen Teilen der SPD pflegt, aber wenigsten Parteimitglied ist. Dass es da auch nichts bringt, sich als Kandidat die viel zitierte „Beinfreiheit“ auszubedingen, hat Steinbrücks Beispiel zur Genüge gezeigt.

Bleiben Stöß und Saleh

Bleiben also der im Juni 2012 gewählte Landesparteichef Stöß und Fraktionschef Raed Saleh, seit Herbst 2011 im Amt. Beiden werden Ambitionen nachgesagt, keiner von beiden spricht öffentlich darüber. Sie könnten versuchen, ein schlechtes Ergebnis dem durch die massiven Probleme am Flughafen BER angeschlagenen Wowereit anzulasten. Ihn dadurch zu kippen, dürfte aber schwer fallen. Denn Wowereit könnte zu Recht kontern, dass Saleh und Stöß nach über einem Jahr im Amt gleichfalls in der Verantwortung für Berliner SPD-Ergebnisse stehen. Freiwillig den Sündenbock für eine versemmelte Bundestagswahl zu geben, das ist nicht Wowereits Sache. Und von ihm selbst ist weiter nichts anderes zu hören, als dass er bis 2016 gewählt sei. STEFAN ALBERTI