Bewegung, Haustiere, Selbsthilfegruppe

HAUSBESUCH Er hat Angst vor Verkleinerung, Verdrängung und steigenden Mieten – Marcus Kluge in Berlin

„Ich möchte mein Alter nicht in einem Arbeiterschließfach in Marzahn verbringen“

MARCUS KLUGE MACHT SICH SORGEN UM DIE ZUKUNFT

VON SUSANNE MESSMER
(TEXT) UND AMÉLIE LOISIER (FOTOS)

Berlin, im gutbürgerlichen Stadtteil Charlottenburg. Zu Hause bei Marcus Kluge (58) und seiner Katze Lola (13). Draußen: Ein schlichter, weiß getünchter Wohnblock aus den Zwanzigern. Weiter, grüner Garten mit viel Wiese, hohen Birken, frisch gestutzten Buchsbaumhecken und Rosen im Innenhof. Man hört die Stadtautobahn deutlich. Wie zur Entschädigung geht der Blick auf den idyllischen Lietzenseepark („Wer weiß, wie lange die Mieten hier noch bezahlbar sind“). Drin: Zwei Zimmer, 52 Quadratmeter, Raufaser, Laminat, graue Auslegeware, kleine Flickenteppiche. Das Wohn- und Schlafzimmer mit großer Bücherwand geht auf den Garten. Alte Lexika, Kraus, Kästner, Tucholsky, Comics, Filmliteratur, Schallplatten, Zeitschriften aus den Achtzigern. Das Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Computer, Drucker, Trimmer und zwei Quadratmeter großem Balkon, der auf einen engeren Innenhof voller Farn und Efeu geht. Gießkanne, aber keine Blumenkästen („Die Katze frisst alles Grünzeug“). Ölgemälde von einem Dorf in Venezuela, wo Marcus einmal entfernte Verwandte besucht hat („Leben könnte ich da nicht“). Lederjacke, original Achtziger („Ab und zu trage ich die noch“). Winziges Bad, gelb lackierte Wände, Wanne und Klo, kein Waschbecken („Wurde zuletzt in den Fünfzigern modernisiert“). Die Küche: kleine Spüle, vergilbter Kühlschrank, Küchenschrank von Ikea, auf dem der Kursplan vom Fitnesscenter klebt. Was macht er? Marcus war von 1988 bis 2003 Medienberater beim Offenen Kanal Berlin, danach Umschulung zum Eventmanager und Pressearbeit für ein Theater in Erfurt. Dann zehn Wochen Klinikaufenthalt. Seit fünf Jahren Frührentner aufgrund chronischer Schmerzen („Das fiel schwer, aber nicht wegen des Geldes, denn ich brauche kein Auto, keine Restaurantbesuche und keine großen Reisen“). Vor vier Jahren Gründung einer Selbsthilfegruppe („Blinde Passagiere“), die er seitdem leitet: Für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die die Therapien hinter sich haben und stabil genug sind („Ich selber habe meine Kindheitserlebnisse durch Therapien verarbeitet. Ich weiß ein paar Sachen, die funktionieren. Zum Beispiel Bewegung und Haustiere“). Über sein Trauma möchte er nicht sprechen. Seit zwei, drei Monaten außerdem: viel Arbeit im Internet, Digitalisierung seines Subkultur-Fanzines Assasin, das er Anfang der Achtziger gemacht hat. Erstmals seit dieser Zeit wieder Verfassen eigener, vor allem satirischer Texte auf Facebook. Was denkt er? Die steigenden Mieten in Berlin beschäftigen ihn, die Angst vor Verkleinerung, Einschränkung der Sammelleidenschaft, Verdrängung („Möchte mein Alter nicht in einem Arbeiterschließfach in Marzahn verbringen“). Aber auch die neuen Leute in der Gruppe: Immer wieder das Thema Missbrauch, das sehr oft der Hintergrund ist. Kürzlich eine alte B.Z. aus dem Jahr 1967 im Archiv gefunden. Es ging um Drafi Deutscher. Der Schlagersänger hatte vor den Augen von Schulkindern betrunken von seinem Balkon uriniert und wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt („Zur selben Zeit wurden in fast jedem Heim, in fast jedem Internat Kinder geprügelt und sexuell missbraucht“). Marcus: Aufgewachsen in einem gutbürgerlichen Haushalt. Vater war Doktor der Philosophie, Mutter Buchhändlerin. 1968 nahm Marcus als Vierzehnjähriger an der Revolte teil und organisierte ein Jahr später an der Schule einen Streik („Heute würden die Lehrer mitmachen“). Damals: Suspendierung und Verbot, auf ein anderes Berliner Gymnasium zu gehen („Das kann man sich ja gar nicht mehr vorstellen“). Mittlere Reife, Jobs in Buchläden und auf Rockkonzerten („Ich bin ausgestiegen, bis ich merkte, dass es niemanden interessierte, was ich vom System halte“). Dann das Fanzine, freier Journalismus unter dem Pseudonym „Sherlock Preiswert“, auch für die taz. Die langjährige Freundin geheiratet, Geburt der Tochter, Arbeit als Pförtner an der Hochschule der Künste. Dann der Sprung zu Radio- und TV-Produktion beim Offenen Kanal Berlin („wahnsinnig interessant und wahnsinnig anstrengend“). Das letzte Date: Eine Frau, die er beim Treffen einer Quiz-Community kennengelernt hat. Nach ein paar Monaten Mailen: Fahrt nach Stuttgart, für fünf Tage („War gut, aber auch schwierig“). Eine Beziehung ist nicht daraus geworden („Fällt halt schwer, wenn man über fünfzig ist“). Einsam? Im Juli wird Marcus Großvater. Freut sich drauf. „War immer neidisch auf die Opas und Omas im Park.“ Und: „Es ist etwas völlig anderes, die Kinder im Alltag zu haben, sie jeden Tag ins Bett und zur Schule bringen zu müssen oder sie ab und zu verwöhnen zu dürfen.“ Der Alltag: Aufstehen um sieben, halb acht. Frühstück („Milchkaffee, viel Körner und Flocken“), dann Walking. Anschließend Mails checken, mittags eine Stunde hinlegen. Nachmittags Bücherei, Stammcafé, Arztbesuch, Fitnessstudio. Oder: ein paar Stunden vorm Computer und zum Abschluss eine halbe Stunde Quiz im Internet („Das macht den Kopf frei“). Abends viel Lesen oder Fernsehen, gern gute amerikanische Serien. Jeden Dienstag die Gruppe, auch dazwischen Treffen mit Mitgliedern. Wie finden Sie Merkel? „Furchtbar.“ Und: „Einfach traurig.“ Und: „Schlecht für Deutschland.“ Außerdem: „Wenn man sich von dieser Frau alte Fotos anschaut: Das war ein anderer Mensch. Die ist irgendwie designt worden.“ Wann sind Sie glücklich? „Nach einer guten Gruppensitzung. Wenn jemand weitergekommen ist.“ Und: „Manchmal auch nach dem Laufen morgens.“

Nächste Woche treffen wir Familie Frisch auf dem Einödhof Waldeck in Markt Lam, Bayerischer Wald. Wenn Sie auch besucht werden möchten, schicken Sie uns eine Mail an hausbesuch@taz.de