Kleine Leute im Regen

DAMALS SPDler wissen, wie man sich einer stolzen Vergangenheit erinnert: mit Flaschenbier und einem grauen Stein

Nun aber hinfort mit dem roten Tuch! Zum Vorschein kommt ein grauer Findling, am Boden eingelassen in ein gepflastertes Rechteck. Dann gibt es Sekt, „Dresdner Engel trocken“

AUS LEIPZIG ANJA MAIER

Tach zusammen“, sagt der Parteivorsitzende, „danke, dass ihr bei diesem Scheißwetter gekommen seid.“ Es ist der Nachmittag vor dem 150. Gründungsgeburtstag der SPD, Sigmar Gabriel hat fünfundvierzig Minuten Zeit mitgebracht, um hier im Leipziger Osten bei strömendem Regen einen Gedenkstein einzuweihen. Fünfundvierzig Minuten, um sich eines Ereignisses zu besinnen, das als Gründungsstunde der deutschen Sozialdemokratie gilt.

„An dieser Stelle wurde am 23. Mai 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet. Zum ersten Präsidenten wurde Ferdinand Lassalle gewählt“, steht auf dem grauen Findling, den Sigmar Gabriel einweihen wird. Noch bedeckt ein rotes Tuch die Inschrift. Der ADAV gilt als Vorläuferorganisation der SPD. Seine Gründung ist der historische Punkt, von dem aus sich der Bogen der deutschen Sozialdemokratie ins Heute spannt. Hinein in dieses Wahlkampfjahr 2013, in dem die CDU eine schwarz-gelbe Regierung führt, weshalb die einstige Partei der Arbeiterklasse unermüdlich versucht, mit viel kämpferischem Wortbesteck beim Wähler eine Art Klassenbewusstsein zu generieren. Freiheit. Gerechtigkeit. Solidarität. Das sind noch heute die Schlagwörter der Sozialdemokratie. Auf dass „die vielen fleißigen Leute“, wie Spitzenkandidat Peer Steinbrück sie gern nennt, am 22. September seiner SPD ihre Stimme geben mögen. Ein Termin, an dem man sich der eigenen revolutionären Geschichte bewusst werden kann, kommt gerade recht.

Hier in der Dresdner Straße 20, wo heute sechsstöckige Plattenbauten stehen, existierte damals ein „Colosseum“ genanntes Ball- und Konzerthaus. In dem Versammlungsort der Leipziger trafen sich an jenem 23. Mai 1863 Arbeitervertreter aus zwölf deutschen Städten, um unter den Augen hunderter Arbeiter den ADAV zu gründen. Zum Präsidenten wählten sie den Journalisten Ferdinand Lassalle. Schon das Ereignis selbst war ein Aufstand. Denn Arbeiter waren im 19. Jahrhundert nicht stolz. Sie waren arm und rechtlos. Hunger, Krankheit und Verwahrlosung waren die Kennzeichen der Unterdrückten; politische Entscheidungen wurden nicht mit ihnen, sondern über sie gefällt. Dass sie sich politisch organisierten, gar Vereine gründeten, wurde mit fristloser Entlassung bestraft.

Über diese „mutigen Männer“ spricht Sigmar Gabriel nun, während der Regen strömt. „Kleine Leute, die Großes geleistet haben“, nennt er sie. Damals wie heute sei ja die Idee der Sozialdemokratie gewesen, dass jeder was aus seinem Leben machen könne, dass Herkunft nichts mit Haltung zu tun habe. Es ist eine von Gabriels leiseren Reden. Er selbst ist ja im Grunde so einer: das Kind einfacher Leute, das heute im gepanzerten Dienst-Audi durch Leipzig rauscht. Man hört auch im Wummern der abbremsenden Straßenbahn, dass ihm die Idee von der sich erhebenden, sich emanzipierenden Klasse nach wie vor viel bedeutet. Aber greift sie denn überhaupt noch? Haben nicht die politischen, die sozialen Verhältnisse in diesem Land Klassenunterschiede bis zur Unkenntlichkeit eingeebnet? Hier in Leipzig zum Beispiel hat die Arbeiterpartei SPD bei der Bundestagswahl 2009 noch knapp zwanzig Prozent geholt, in ganz Sachsen jedoch ist sie unter der 15-Prozent-Marke verkümmert. Die Sachsen, dieses laut der 89er-Legende revolutionäre Völkchen, lassen sich seit 23 Jahren von der CDU regieren. Sozialdemokratische Tradition hin oder her.

Martin Dulig meint zu wissen, woran das liegt. Im Osten Deutschlands sei die Geschichte der Sozialdemokratie „abgebrochen“, sagt der SPD-Landeschef. „Erst die Nationalsozialisten und schließlich die SED“ hätten dafür gesorgt, dass die Sachsen kaum mehr etwas von ihrer Geschichte wüssten. Dass nun wieder erinnert werde an die Tradition der Sozialdemokratie – das sei schon was Neues.

Nun aber hinfort mit dem roten Tuch! Zum Vorschein kommt ein grauer Findling, am Boden eingelassen in ein gepflastertes Rechteck. Eine breite Platte kündet vom historischen Ereignis; eine an ein Bürotürschild erinnernde Plexiglasscheibe nennt den Sponsor: „Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Leipzig, 23. Mai 2013“. Dann gibt es Sekt, „Dresdner Engel trocken“. Der Fahrer des Parteivorsitzenden lässt den Motor an.

Fünf Stunden später steigt hier noch eine Party. Ab 22 Uhr treffen sich Sachsens Genossen zur „Reinfeier“ – in zwei Stunden hat die SPD 150. Geburtstag. Die Dresdner Straße liegt im Dunkel, an den Stehtischen neben dem Gedenkstein trinkt man Flaschenbier und den übriggebliebenen Sekt vom Gabriel-Nachmittag. Hier ist sie, die sächsische Basis. Frage also: Dieser Gedenkstein hier – wichtig für die Identität oder wohlfeile Propaganda?

Michael Lersow mag die Frage nicht. „Die SPD ist 150“, stellt er klar, „die Ost-SPD ist 23.“ Lersow muss es wissen, er war dabei, als in Chemnitz die sächsische SPD gegründet wurde, er war ihr erster Landesvorsitzender. Im Frühling 1990 war das, eine irre Zeit. Mutige Männer und Frauen waren sie damals, ungefähr so mutig wie die zwölf Delegierten, die sich 1863 hier im Collosseum getroffen haben. Lersow, der in den sechziger Jahren wegen „staatsgefährdender Hetze“ im Knast saß, war so einer. Die SPD „war hier kaputt“, erinnert er sich, „wir waren eine Neugründung. Wir wollten Demokratie, Teilhabe, Freiheit.“ Wenige Monate drauf, im Oktober, holten Sachsens Sozis unter seiner Führung ihr bestes Ergebnis: 19,1 Prozent. Diese Zeit der Wende – sie ist hier das präsente, identitätsstiftende Moment der sozialdemokratischen Geschichte.

Michael Lersow nimmt einen Schluck Wernesgrüner. Der Gedenkstein ruht hinter ihm in der Dunkelheit, jemand hat seine leere Bierflasche auf das frische Pflaster gestellt. Rückbesinnung, sagt Lersow, Rückbesinnung sei schon irgendwie wichtig. Über die Dresdner Straße huscht ein Fuchs.