DER ERSTE TAG
: Scheinende Schollen

Willkommen am ersten Tag! Allzu viel passiert auf dieser Berlinale heute noch nicht, abgesehen davon, dass um 19.30 Uhr mit Wang Quan’ans „Tuan Yuan – Getrennt zusammen“ der Wettbewerb eröffnen wird. Hat man also mangels Ereignissen vorläufig über nichts anderes zu berichten als das Eis?

Sicher, die Ankündigung, für die Stargäste würden die Kinozugänge rechtzeitig freigepickelt, mochte zunächst schockieren. Doch wäre es übertrieben zu behaupten, die Berlinale-Hot-Spots seien inzwischen großflächig von den sechs Wochen dicken Schollen befreit, während sich der gemeine Plebejer vor seiner Berliner Haustür noch immer die Knochen bricht. Nein, das Mädchen, das gestern einsam und ohne Handschuhe einen Streukarren über den Potsdamer Platz schob, um unter dem Sponsorplakat mit der gigantischen Haarspraydose von Penélope Cruz („Für ultra starken Halt“) etwas Splitt auszustreuen, versicherte, sie arbeite immer hier. Wie viel sie pro Stunde verdient, mochte sie nicht verraten. Bleibt die Frage, inwiefern dieser Winter auch die Berlinale-Kritik aufs Eis führen wird. Durchaus denkbar, dass, wer sich nach Verlassen eines Kinos sofort aufs grätschfreie Fortkommen konzentrieren muss, gar nicht mehr gut räsonieren kann. Werden die 400 Filme schneller verrissen sein, als die Spucke des Kritikers anfriert?

Zum Aufwärmen empfiehlt sich also dringend ein Besuch der Ausstellung „The complete Metropolis“ im Filmmuseum am Potsdamer Platz. Brigitte Helm als Aufblaspuppe gibt es hier nicht zu kaufen, dafür sieht man toll gezeichnete Szenenbildentwürfe von Erich Kettelhut von 1925. In ihnen spiegeln sich unverkennbar die begeisterten Eindrücke, die Fritz Lang ein Jahr vor Dreh des Films während seines Besuchs in New York schwärmen ließen von „Straßen, die Schächte voll Licht sind, voll drehendem, wirbelndem, kreisendem Licht, das wie ein Bekenntnis zu frohem Leben ist“. Nicht zuletzt dokumentiert die Metropolis-Ausstellung also sehr gut, wie sehr sich der Potsdamer Platz in der Zwischenzeit versucht hat, Manhattan anzugleichen. Sicher, dort pulst der Glamour viel leibhaftiger als hier; man wird hier ja selbst zur Berlinale das Gefühl nicht los, in Potemkin’schen Kulissen zu wandeln. Doch wer sich beim Rumrutschen übers Eis traut, den Blick für eine Sekunde von den Stiefeln zu lösen, wird über sich nicht nur stählernen Leerstand sehen, sondern auch große Plastikgoldpuschel, die noch von Weihnachten an den Laternen kleben. Wie im Kino gilt auch hier: Nur der Schein zählt. Bis morgen! JAN KEDVES