die taz vor zehn jahren fragt: welcher politiker kann in berlin schon glänzen?
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Nirgendwo anders trifft der zugegebenermaßen aristokratische Satz, wonach jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, treffender zu als auf Berlin. Das ist durch den neuen Senat, der seit Dienstag abend steht und über den CDU und SPD drei Monate verhandelt haben, nicht anders geworden. An der Spitze der Dreieinhalb-Millionen-Metropole steht erneut der farblose Eberhard Diepgen. Eine Kontinuität, die in der Logik der noch funktionslosen Hauptstadt dieser Republik liegt.

Krampfhaft wird zwischen Spandau und Marzahn, Pankow und Tempelhof Weltmetropole gespielt, der Mythos der goldenen Zwanziger, der Mauer- und Frontstadt bemüht, um im Alltag doch stets am Bulettenstand zu landen. (…). Berlins Mittelmäßigkeit ist das Ergebnis des alten Westberliner Sumpfes, der nach der Vereinigung auch den Osten erstickt hat. Plastisch führt die CDU unter den Doppelfürsten Diepgen und Fraktionschef Klaus Landowsky nun schon seit Jahren vor, daß Neuerungen nur soweit gewünscht werden, wie sie die in Jahrzehnten aufgebaute Machtbalance nicht stören.

Daß mit Jörg Schönbohm ein Exgeneral den mit 30.000 Beamten größten Polizeiapparat der Republik führen soll, zeigt den Grad an Populismus, zu dem die Berliner CDU schon immer neigte. Innerhalb der CDU gibt es ein breites kleinbürgerliches Milieu, dessen konservative ordnungspolitische Vorstellungen zumindest im subjektiven Empfinden erfüllt wurden. Für sie bleibt Schönbohm der Offizier, der dem „Kampf gegen die Kriminalität“ seine militärische Bedeutung zurückgibt. (…).

Angesichts der in der Bundesrepublik einzigartigen Probleme verwundert es nicht, daß sich CDU und SPD in ihren Inhalten immer mehr gleichen. Was bei den Christdemokraten despektierlich als „schleichende Sozialdemokratisierung der Politik“ benannt wird, ist die logische Konsequenz einer Haushaltspolitik, die die eigene Partei mit verschuldet hat.

Severin Weiland, 25. 1. 1996