Kanada rückt näher an die USA heran

Bei den Parlamentswahlen in Kanada gewinnt die konservative Opposition. Der designierte Regierungschef Stephen Harper will die Beziehungen zu den USA verbessern. Gewerkschaften und Linke befürchten jetzt einen massiven Sozialabbau

AUS TORONTO HANNES HEINE

Einen Rechtsruck und eine „Amerikanisierung“ Kanadas befürchten Beobachter, nachdem die Konservativen in der Nacht zum Dienstag die Parlamentswahlen gewonnen haben. Fast 37 Prozent der Wähler gaben der Partei von Spitzenkandidat Stephen Harper ihre Stimme. Harper kündigte eine neue Sozial- und Außenpolitik an. Die bisher regierenden Liberalen landeten mit 30 Prozent auf dem zweiten Platz. Der scheidende Premier Paul Martin stolperte im November über einen Spendenskandal und kündigte gestern seinen Rücktritt als Parteichef an.

Mehr erwartet hatte auch der separatistische Bloc Québécois, der nur in der französischsprachigen Provinz Quebec antrat: 40 Prozent der Wähler stimmten für die Nationalisten, was landesweit 11 Prozent entspricht. Dazugewonnen hat die Neue Demokratische Partei (NDP), die mit fast 18 Prozent die Rolle einer Linkspartei einnimmt.

Von den 308 Parlamentssitzen in der Hauptstadt Ottawa entfallen 124 auf die Konservativen, 103 auf die Liberalen, 29 auf die NDP – einen Sitz gewann ein unabhängiger Kandidat. 51 Abgeordnete stellt der Bloc Québécois, der am deutlichsten vom kanadischen Mehrheitswahlverfahren profitiert. Dabei ist nicht entscheidend, wie die Stimmen auf die Parteien verteilt sind, sondern nur, welcher Kandidat die Mehrheit eines Wahlkreises und damit ein Mandat gewinnt. Die Anzahl der Sitze einer Partei im Unterhaus weicht dadurch von ihrem Gesamtstimmenanteil ab.

Für Harper reicht es derzeit bloß für ein Minderheitskabinett – und noch dazu ein sehr wackeliges. Wenn die Konservativen in drei Wochen die Regierungsgeschäfte übernehmen, werden sie bald auf Stimmen aus anderen Parteien angewiesen sein. Das könnte schneller als erwartet wieder zu Neuwahlen führen.

„Auch wenn Harper in einigen Fragen Stimmen vom Bloc Québécois und den Liberalen bekommen wird, könnte seine Regierung in weniger als zwei Jahren fallen“, sagt Phil Triadafilopoulos, Politologe an der Universität Toronto. Neben Steuersenkungen und Einschnitten bei den Sozialausgaben will Harper das US-Raketenabwehrsystem NMD neu diskutieren, dem sich Kanada bisher verweigerte.

Seit sich die Liberalen gegen einen Angriff auf den Irak ausgesprochen hatten, sind die Beziehungen zwischen Ottawa und Washington gespannt. Harper will das Verhältnis zu den USA verbessern und in den nächsten Jahren über fünf Milliarden Dollar zusätzlich fürs Militär ausgeben. Schon jetzt kritisierte er das Klimaschutzprotokoll von Kioto, das Kanada im Gegensatz zu den USA unterzeichnet hatte, als „nicht umsetzbar“.

Zufrieden sein dürfte US-Botschafter David Wilkins, der die Liberalen davor gewarnt hatte, Wahlkampf auf Kosten des „Handelspartners Nummer eins“ zu machen. Im letzten Jahr gingen 87 Prozent aller kanadischen Exporte in die USA – vor allem Öl.

Dass die Konservativen, deren Hochburg die ölreiche Provinz Alberta im Westen des Landes ist, in Ostkanada dazugewonnen haben, gilt als kleine Sensation. Experten sehen darin vor allem Protest. In der auflagenstarken Globe and Mail heißt es dazu, dass „Stephen Harper die Wahl gewinnt, weil ihm weniger misstraut wird als Paul Martin“.

Im Wahlkampf hatte sich Martin als Hüter des angeschlagenen Sozialstaats aufgespielt. Das schien unglaubwürdig, denn die liberale Bundesregierung kürzte schon 1995 die Sozialausgaben. Die Gewerkschaften warnen nun vor einem Ende der ohnehin lückenhaften Kinderfürsorge. Sie unterstützen NDP-Chef Jack Layton, der erklärte, es gehe darum, eine Privatisierung der Krankenversicherung zu verhindern.

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