Deutschland in 30 Stunden

„Warum verdienen eigentlich in Deutschland Frauen weniger, die dieselbe Tätigkeit ausüben wie ein Mann?“ fragt Özgür Mordogan

AUS DUISBURG NATALIE WIESMANN

Marlene Lang schaut fragend in die Runde: „Wenn zwei Partner zusammen sind, was haben die dann?“ Die Wangen der Pro Familia-Mitarbeiterin sind leicht gerötet. Vor ihr sitzen etwa 20 Erwachsene, die sie stumm anschauen. Normalerweise klärt Lang Kinder und Jugendliche über Sex, Verhütung und Schwangerschaftsabbrüche auf. Die TeilnehmerInnen des Orientierungskurses der Volkshochschule Duisburg sind aber zwischen 20 und 50 Jahre alt, die meisten haben bereits Familie und Kinder. „Das ist für mich eine Premiere“, hatte die Enddreißigerin in ihrer Vorstellung vorausgeschickt.

An einer Wand hängen Zettel mit Fragen von Jugendlichen wie: „Ist Selbstbefriedigung schädlich?“ Hinter einer Vitrine sind fleischfarbene Dildos und andere Sexspielzeuge ausgestellt. Lang gibt nicht auf: „Was haben Partner zusammen?“ „Kinder“ ruft jemand, alle lachen. „Ja, das stimmt. Aber ich meinte Sexualität“, löst Lang auf. „Können Sie sich vorstellen, welche Probleme es in der Sexualität geben könnte?“ fragt sie weiter. Wieder Stille im Raum. „Wir haben schon etwas zu sagen, aber nicht das Sprachniveau, um die richtigen Worte zu finden“, erklärt Ardian Cocay, ein junger stämmiger Kosovare, stellvertretend für die Gruppe.

600 Stunden Deutschunterricht liegen hinter den Einwanderern, die zum Großteil aus der Türkei, aus der ehemaligen Ostblockstaaten und Afrika kommen – offensichtlich nicht ausreichend, um differenziert über Schwangerschaftsabbrüche oder Beziehungsprobleme zu reden. Der Besuch bei Pro Familia ist Teil des Orientierungskurses, den sie brauchen, um den Integrationskurs erfolgreich abzuschließen – der ist für Neuzuwanderer seit 2005 durch Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes verpflichtend.

Lang und ihr Kollege Peter Rüttgers haben ihre Köpfe zusammen gesteckt. „Ist es ihnen lieber, dass wir Frauen und Männer trennen, wenn es um Geschlechtsorgane und Verhütung geht?“, fragt Rüttgers, der bei Pro Familia Jungenarbeit macht. Die meisten zucken mit der Schulter, es ist ihnen egal. Nur Nuran Kisla, die einzige Frau mit Kopftuch, meldet sich und sagt leise: „Ja, lieber getrennt.“

Die Frauen wechseln in einen kleinen Raum, Lang hängt eine Karte mit dem weiblichen Körper auf. Dort heftet sie Geschlechtsteile an – Scheide, Gebärmutter, Eierstöcke, Busen. Die meisten der Frauen kennen sie schon, die Begriffe. „Vagina“, sagt eine für Scheide. „Ja, das ist wohl international“, sagt Lang und nickt. Dann demonstriert die Pro Familia-Mitarbeiterin anhand eines Plastik-Modells des weiblichen Unterkörpers die richtige Platzierung eines Tampons. Für den Teil über die verschiedenen Verhütungsmittel bleibt kaum mehr Zeit. „Die Pille kennen Sie ja“, sagt Lang. Dann hält sie mit ihrer rechten Hand ein Diaphragma in die Höhe. „Kennen Sie das?“ Die Frauen schütteln den Kopf. „Das wird auch bei uns kaum benutzt“, sagt die Pro Familia-Mitarbeiterin und legt es wieder zurück in den großen Koffer. Mehr Interesse findet die Spirale, Lang reicht ein Exemplar herum.

Wieder beisammen, sollen die weiblichen und männlichen KursteilnehmerInnen sich zu ihren Wertevorstellungen äußern. Dafür hat Rüttgers Thesen aufgestellt. „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“, liest Rüttgers von seinem Zettel. Alle laufen in die Ecke des Raumes, in der ein gelber Smiley „stimme zu“ signalisiert.

Keiner der Anwesenden hat sich dagegen bei „Gleichberechtigung finde ich nicht gut“ positioniert. Rüttgers hakt nach: „Aber wie ist das denn in ihren Heimatländern geregelt?“ „Auch so“, sagt Wortführer Ardian Cocay. Die anderen nicken zustimmend. Özgür Mordogan, ein 25-jähriger Türke mit Dreitagebart, runzelt die Stirn und stellt Rüttgers eine Gegenfrage: „Warum verdienen eigentlich in Deutschland Frauen weniger, die dieselbe Tätigkeit ausüben wie ein Mann?“ Rüttgers und Lang können das auch nicht beantworten. Lang gibt noch mehr Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau in Deutschland preis: „Eine Frau wird oft nicht angestellt, weil sie schwanger werden könnte.“ Viele nicken wissend. Frauen würden auch wesentlich häufiger vergewaltigt als Männer, so Lang. „Das ist bei uns vom Gesetz aus verboten“, sagt sie mit Nachdruck in der Stimme.

Ihr Kollege Rüttgers wirft die nächste These in den Raum: „Homosexualität ist nicht normal.“ Klingt wie eine Frage aus dem umstrittenen baden-württembergischen Gesinnungstest für einbürgerungswillige Muslime. Hier wären zwei Drittel der TeilnehmerInnen durchgefallen, denn die meisten finden gleichgeschlechtliche Liebe nicht normal. Warum nicht, können sie auch nicht genau formulieren. „Die sollen tun, was sie wollen, ich möchte das nicht probieren“, sagt wieder Ardian Cocay.

Andere scheinen da hin- und hergerissen zu sein. Wie Pascal Ifeacho aus Nigeria, der seit sieben Jahren in Deutschland ist und sich zu dem neutralen Smiley gestellt hat. „Vor zehn Jahren hätte ich auf dieser Seite gestanden“ und zeigt dabei mit dem Kopf auf die Partei, die Homosexualität nicht normal findet. In der Zwischenzeit hätte er sein Bild geändert, weil er viele schwule Männer kennengelernt hätte. „Aber es wird wohl noch zehn weitere Jahre dauern, bis ich auf dieser Seite stehe“ und blickt zu der kleinen Gruppe, die Schwulsein okay findet.

Auf dieser Seite befindet sich auch Nurhan Güngör, die ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden hat. Vor zwei Jahren ist sie ihrem Mann nach Duisburg nachgezogen. „Ich bin nicht lesbisch, finde das aber normal.“ Die 22-jährige Türkin plagen im Moment ganz andere Sorgen: Sie würde gerne Erzieherin werden. Durch die freiwillige Teilnahme am Integrationskurs erhofft sie sich bessere Chancen auf eine Ausbildung. „Ich habe mir das Leben in Deutschland einfacher vorgestellt“, sagt sie. Deutschland sei ein reiches Land, ja, aber „alle sind arbeitslos“.

Die KursteilnehmerInnen haben am Ende einen Bogen ausgefüllt, auf dem sie ankreuzen sollen, was ihnen der Tag bei Pro Familia gebracht hat. Was sie gelernt haben? Die Serbin Ivana Petkovic schüttelt ihren Lockenkopf: „Nein, gelernt habe ich nichts.“ Der Sprachkurs hätte ihr hingegen sehr geholfen. „Das ist für uns nicht neu, wir können lesen, schreiben und sehen“, sagt Nuran Kisla. Ob sie sich nicht für voll genommen fühle? Sie nickt. Sehr interessant hätte sie den Besuch im Rathaus und im Stadtmuseum gefunden, fügt die kleine 44-jährige Frau hinzu. Das finden auch die anderen. „Jetzt weiß ich zum Beispiel, dass der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland heißt“, sagt Frank Petrozza und lacht. Der kanadische Eishockey-Spieler lebt seit zehn Jahren in der Revierstadt. Er besucht den Orientierungskurs freiwillig – um eine vorgezogene Einbürgerung zu erwirken.

Einen Tag später werden sie getestet über all das, was sie in den 30 Stunden über Deutschland gelernt haben. Sie sollen wissen, welche drei Wörter in der deutschen Nationalhymne wichtig sind und wann sie gesungen wird: bei privaten Feiern oder hauptsächlich zu offiziellen Anlässen. Auch wird gefragt, welche Farben die deutsche Flagge hat. „Das wusste ich schon, bevor ich nach Deutschland kam“, sagt Victor Balasov aus Moldawien. Auch folgende Aufgabe werden wohl er und die anderen KursteilnehmerInnen alle ohne Probleme lösen können: Passt folgender Satz zu den Grundrechten? „Der Mann ist mehr wert als die Frau.“