Überfördern wir unsere Kinder?
Ja

PUSHEN Heute, am 1. Juni, ist Internationaler Kindertag. Doch wie viel ist von der Kindheit noch übrig? Fechten, Klavier, Mandarin – der Terminplan mancher Kleinen ist viel zu voll

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante

Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

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Felicitas Römer, 49, ist Familientherapeutin, vierfache Mutter und Autorin

Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Dass sie klug, glücklich und erfolgreich werden, ist zum Mindeststandard elterlicher Erziehungsziele geworden. Auch Wirtschaft und Politik fordern kompetenten Nachwuchs: Das Stichwort „Fachkräftemangel“ klingelt uns in den Ohren. Und so wird dann gefördert und gefordert, was das Zeug hält: Chinesischkurse für Minis, Kompetenzerfassungsbögen in Kitas, G8: Kinder haben immer schneller fit zu sein. Nicht alle Kinder sind diesem Druck gewachsen; sie leiden dann still vor sich hin oder werden „auffällig“. Doch eigentlich wissen wir: In der Erziehung geht es um Liebe, nicht um Leistung. Also: kritisch bleiben mit den Forderungen von Wirtschaft und Politik und immer schön dem Herzen folgen. Das ist allemal das Beste für Ihr Kind!

Salman Ansari, 71, ist Pädagoge und Autor eines Buches gegen Förderungswahn

Die fälschliche Behauptung, nur in den ersten Lebensjahren seien im Gehirn Fenster zur Aufnahme von Wissen offen, hat zu einer Frühförderungshysterie und einer Dichotomie zwischen Lernen und Spielen geführt. Besondere Verwirrung hat der Begriff „Kind als Forscher“ verursacht. Die Wege des kindlichen Erforschens haben mit den Forschungsstrategien der Erwachsenen nichts gemein. Überförderung bedeutet ein Lernen, das den kindlichen Erfahrungsmöglichkeiten widerspricht. Eine Lernumgebung, die Kinder darin unterstützt, ihre vorhandenen Konzepte durch neue Erfahrungen zu modifizieren, um sich selber und ihre Welt besser zu verstehen, unterstützt nachhaltig die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Letztlich verkümmert jedes Geschehen, in das man sich nicht selber emotional-kreativ einbringen kann, zu Aktionismus und hinterlässt keine Verknüpfungen im Gehirn. Dies ist bei vielen Frühförderungsprogrammen der Fall.

Daniel Düngel, 37, ist familienpolitischer Sprecher der Piratenfraktion in NRW

Ich bin selber dreifacher Familienvater und weiß, wie schnell der Familienkalender vollgeplant, der elterliche Fahrdienst durch viele Verpflichtungen ausgebucht ist. Natürlich macht es uns als Eltern stolz, wenn das Kind etwas Besonderes erlernt. Aber: Muss ein Kind Klavier spielen, mit zwölf Jahren drei Fremdsprachen sprechen, ein Einser-Abi machen und spätestens mit 17 den ersten Einsatz in der Fußball-Bundesliga haben? Wirkliche Begabungen sollten frühzeitig entdeckt und die Kinder individuell gefördert werden. Quantitativ und qualititativ gute Standards in allen Bildungseinrichtungen sind dafür Voraussetzung. Die frühkindliche Bildung muss weiter verbessert werden, damit sich Kinder durch altersgerechtes Spielen und Lernen ihren Begabungen und Stärken entsprechend entwickeln können. Der Staat hat hier eine entscheidene Aufgabe, aber auch Eltern müssen sich viel mehr einbringen und Verantwortung übernehmen.

Der Leser Uwe Hauck nahm zu unserer Streitfrage auf Facebook Stellung

Es gilt offenbar alles darauf auszurichten, dass das Kind später mal einen guten Beruf bekommt. Ja, wir überfördern unsere Kinder, indem wir ihre Kindheit den Unternehmen zur Disposition freigeben. Wer ernsthaft darüber nachdenkt, Unternehmen als Sponsoren von Schulen einzusetzen, hat längst nicht mehr das Kindeswohl, sondern das Wirtschaftwohl im Sinn. Unsere Kinder sind nicht jeden Abend woanders unterwegs. Viel wichtiger ist es, dass sie nach den mittlerweile schon sehr intensiven Schultagen und Hausaufgaben überhaupt noch zum Spielen und Freundetreffen kommen.

Nein

Raimund Geene, 49, ist Professor für Kindergesundheit in Magdeburg/Stendal

„Überfördern“ ist eine bildhafte, witzige Zuspitzung. Aber ich finde, es trifft die Realität eher nicht. Die in den letzten Jahren entwickelten Konzepte von Gesundheitsförderung, Kleinkindpädagogik und frühen Hilfen sind eher behutsam und abwartend. ErzieherInnen sollen beobachten und Angebote machen zu den Fragen, die die Kinder stellen. Mag sein, dass manche Eltern mit (Vorsicht: Klischee!) Einzelkindern ihr schlechtes Gewissen mit Fahrdiensten zu vermeintlichen Förderangeboten kompensieren. Dadurch entsteht eine „verinselte“ Kindheit. Aber das ist eher ein Luxusproblem und empirisch kaum zu belegen. Viele Kinder wachsen vielmehr in armen, kinderreichen Familien auf, oft bei alleinerziehenden Müttern. Dort gibt es ganz andere Probleme: Unterförderung – Fachkräftemangel, wenig (Kindheits-)Wissen(schaften), wenig Fortbildungen und viel bürokratische Kontrolle bei kaum frühen und ausreichend verfügbaren Hilfen.

Marie-Luise Lewicki, 53, ist Chefredakteurin des Monatsmagazins Eltern

Kinder wollen lernen, sie bringen alle Fähigkeiten dazu mit. Gesundes Fördern braucht liebevolle Zuwendung, sichere Bindung und Raum zum Experimentieren. Das Kind erfährt, dass es etwas bewirken kann. Das führt zu Selbstbewusstsein. Solange „Förderung“ Kindern Spaß macht, kann nichts schiefgehen. Abgesehen davon, dass Baby-Malkurse, Signing-Kurse und Orff für Eineinhalbjährige Zeit und Geld kosten, für die Eltern bestimmt eine bessere Verwendung haben. Schwierig wird es, wenn Fördern heißt: Startlöcher graben für den Sprint ins Karriereleben. Und es nicht um Lernspaß geht, sondern um die Eintrittskarte in eine Schullaufbahn, die in Harvard endet, um Abgrenzung und Optimierung. Und mitunter ist das Ergebnis ein Kind, das sich nicht selbst beschäftigen kann, zu nichts mehr Lust hat. Und fühlt: So, wie ich bin, genüge ich einfach nicht. Deshalb: Entspannt euch, liebe Eltern! Gras wächst auch nicht schneller, wenn man dran zieht!

Claudia Theißen, 45, ist Vorsitzende des Fördervereins der BIP-Kreativitätsschulen

Kinder können nicht genug gefördert werden, sie lernen gerne und wollen „groß“ sein. Daher ist ein vielfältiges Angebot wichtig. Wie sonst soll ein Kind Erfahrungen machen und entdecken, was ihm Spaß macht und wo es Talent hat? Mein Sohn geht auf eine Privatschule mit Förderangebot. Natürlich macht ihm nicht jedes Fach gleich viel Spaß, aber wenn er nach Hause kommt, ist er ausgeglichen, ausgelastet und hat auch in der 4. Klasse noch den Wunsch, selbst Lehrer zu werden. Leider ist es so, dass einige Kinder überfördert werden, aber zu viele Kinder gar nicht. Förderung sollte im Kita- und Schulsystem integriert und nicht von den Eltern abhängig sein. Dabei müssen mehr individuelle Formen gefunden werden.

Elisabeth Brinkmeier ist in der Elterninitiative einer Deutsch-Chinesischen Grundschule

Die Familie meines chinesischen Mannes sorgt sich, weil unser Sohn im Kindergarten keinen Englischunterricht hatte. Nachmittags spielt er auf dem Spielplatz, denn die Schule endet für ihn nicht erst um fünf Uhr. Abends hängt er auch nicht noch drei Stunden für Hausaufgaben dran. Aus chinesischer Sicht ein klarer Fall von Unterförderung. Er lernt Chinesisch, weil die chinesische Sprache eine Brücke zu seinen Verwandten ist. Deutsche Kinder, die mit der Sprache beginnen, profitieren vom engen Bezug ihrer Mitschüler zur chinesischen Sprache und Kultur. Vielleicht gibt es deutsche Tigermütter – in unserer Schule habe ich noch keine getroffen.