Wo Bürokraten herummarschieren

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Als „unidentifiziertes politisches Objekt“ hatte schon Jacques Delors die EU definiert. Liegt darin eine Chance? Fragen zu Europa in der „Gazette“ und im „Wespennest“

Es ist nicht ganz klar, was die nackte Europa mit dem Stier macht. Rutscht sie gerade ins Wasser oder schwingt sie sich hinauf, um neuen Abenteuern entgegenzugaloppieren? Félix Vallotons Bild von 1908 schmückt das Deckblatt der aktuellen Gazette mit dem Thema „Wohin, Europa?“ In seiner Uneindeutigkeit ist es visionär.

Die Zeitschrift Wespennest hat sich ebenfalls Europa vorgeknöpft, hier fällt das Urteil deutlicher aus: Langsam zerbröselt auf dem Titelblatt die rechte Zacke eines Sterns vor blauem Grund. „Phantomschmerz Europa“ titeln die Redakteure. Anton Pelinka beschreibt die EU in seinem Wespennest-Beitrag als unvollendete Föderation, in der sich die Mitgliedstaaten darum balgen, wer wie an welche Macht kommt. Das ist Politik. Das kleine und zur allgemeinen Verwirrung auch noch zweisprachige Brüssel taugt weder für die Rolle des Vaters, der Himmelsbrot an alle verteilt, noch lässt es sich als Mann mit Peitsche personifizieren – auch wenn die Rumänen das laut Ion Vianu momentan so empfinden. Es ist nur Brüssel. Expansionspläne braucht hier niemand zu befürchten.

Langweilig? Nein. Gerade in dieser Uneindeutigkeit, in dieser Komplexität, scheint die Zukunft zu liegen. Als „unidentifiziertes politisches Objekt“ hatte schon Jacques Delors die EU definiert. Jan-Werner Müller zitiert ihn, wenn er fragt, ob die europäischen Intellektuellen versagt haben. Es gibt keine eindeutige Vision mehr, keine neue große Erzählung, keine Ideologie. Und es darf auch keine mehr geben. Die Aufgabe der Intellektuellen sei es, die EU trotzdem zu erklären.

Was passiert, wenn sich „die Besten“ zusammensetzen, berichtet Carlos Widmann dann in der Gazette: Auf dem Schriftstellerkongress, der im Januar in Paris stattfand, sind sich alle einig, dass etwas geschehen muss, aber niemand weiß so recht, was. Das führt so weit, dass sich Umberto Eco eine neue Heldengestalt wünscht, eine Art „übernationalen Asterix“.

Dann diskutieren die anwesenden Intellektuellen die Option der Vereinigten Staaten von Europa, finden aber, dass die Idee „leider nicht sexy ist“.

In seiner aktuellen Form liege Europa jedenfalls im Sterben, vor allem in den Mutterländern der Demokratie, in Rom und Athen. Bei Berlusconi und seinesgleichen fragt man sich in der Tat, ob sie wirklich zu Europa gehören müssen. Auch die europafreundlichsten Augenbrauen heben sich spätestens über der Lektüre von Dietrich Krusches Artikel zu Putin. Oben-ohne-Bilder des Herrschers beim Jagen und Angeln illustrieren den Text. Dieser Typ in einer Union vereint mit Habermas, Julia Kristeva und Bernard-Henry Lévy?

Camerons glänzende Bäckchen

Kein Wunder, dass sich da manche Alternativen überlegen. Pia Johanna Jaeger beleuchtet das Verhältnis Großbritanniens zu Europa. Auf einem Foto zählt Cameron mit glänzenden Bäckchen die Gründe für einen Austritt an den Fingern ab. Es sind die gleichen Finger, mit denen er sonst auf Brüssel zeigt. Denn für Schuldzuweisungen eignet sich die Hauptstadt der EU dann doch.

Der Zeigefinger weist auch auf Deutschland. Seit der Krise fallen wieder besonders viele Vergleiche zum Dritten Reich, es ist die Rede von Merkhiavelli und von einem deutschen Europa, in dem statt Soldaten Bürokraten herummarschieren. „Natürlich sind wir schuld“, stellt Lukas Hammerstein im Wespennest fest und dröselt die gegenseitigen Ressentiments der Europäer auf. Er empfiehlt Gelassenheit, schließlich könne man niemanden zwingen, die streberhaften Deutschen zu lieben. Oder die Europäische Union. Aber sie sei es wert, denn sie ist mehr als ihre gemeinsame Währung, so bilanzieren die meisten Autoren.

Unabhängig davon, ob Europa nun rutscht oder schwingt: Wer nach Krise und Postkrise keinen Nerv mehr für die Union hat, der findet in der Gazette auch syrische Bürgerkriegsparteien oder eine Fotostrecke von Kindern, die in Nigeria für Hexen gehalten werden. Wespennest porträtiert die großartige kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugreši und druckt Gedichte von Susanne Eules: „halte mein hemd auf / wartend für die taler / die am himmel atmen“. Warum eigentlich nicht. Nur: unter dem europäischen Himmel kann Sterntaler gerade lange warten. Von dem fallen momentan höchstens Sparprogramme.

CATARINA VON WEDEMEYER

Die Gazette, Nr. 37, Frühjahr 2013, 9 Euro

Wespennest, Nr. 164, Mai 2013, 12 Euro