GUTE ERZIEHUNG
: „Wille keine Kiss geben“

Muttersein für Einsteiger

VON LUCIE MARSHALL

Wir sind zu Besuch bei Marcs schwedischer Verwandtschaft. Kaum angekommen, stürmen zehn strahlende Menschen auf Sam zu, an deren Gesichter er sich nur dunkel erinnert.

Er versteckt sich hinter meinen Beinen und ist eigentlich nur an dem Welpen seiner Tante Liv interessiert. Alle lassen ab, nur seine Großtante Elsa hält hartnäckig an einer standesgemäßen Begrüßung fest: „Na, komm Sam, du wirst doch wohl deiner Tante Else einen ordentlichen Kuss geben!“ Dazu muss man wissen: Tante Else wird dieses Jahr 80, ist deutschstämmig und war die längste Zeit ihres Lebens Oberschwester. Ihr Spitzname: „La Diva“. Sie muss so etwas wie die Marlene Dietrich des Krankenhauses von Uppsala gewesen sein.

Sam lässt das alles kalt. Er schaut sie kurz an und entscheidet sich für den Welpen. Ich muss schmunzeln, dass Sam „La Diva“ so am langen Arm verhungern lässt, trotzdem versuche ich zu vermitteln: „Sam, magst du Tante Else mal guten Tag sagen?“

So ganz wohl ist mir aber auch nicht. Ich verstehe, dass er sie nicht küssen will. Ich war auch nicht so scharf darauf, Tante Else zu küssen, aber ich habe mich brav gefügt. Ich kann auch nicht leugnen, dass es mich stolz machen würde, wenn Sam das ganz brave, liebe Kind spielt.

Tante Else wird ungehalten: „Jetzt will ich aber einen Kuss!“ Sam schaut mich an und sagt laut genug, dass es alle hören können: „Wille Tante Else keine Kiss geben.“ Tante Else schaut mich empört an. „Der ist aber nicht gut erzogen, Lucie“, raunzt sie mich an. Ich hole gerade Luft und will mich rechtfertigen, da hat sie sich schon abgewendet.

Interessant. Vor allem, was in mir vorgeht. Ich finde es eigentlich sehr gesund, dass er so reagiert und seine Grenzen sieht und schützt. Ich selbst würde mich das gar nicht trauen. Ich bin nämlich „so gut erzogen“, dass ich auch Menschen zur Begrüßung umarme, die meinen Fluchtinstinkt akut triggern und in mir alles schreit: Wo ist die nächste Dusche? Was ist also eine „gute Erziehung“? Wenn ich ihm seinen Instinkt austreibe, damit Tante Else jauchzt, wie gut er erzogen ist, und ich mir selber auf die Schulter klopfe, was für einen süßen Sohn ich habe? Oder ist eine gute Erziehung nicht vielmehr, dass ich ihn darin bestärke, seine Grenzen zu sehen und zu schützen?

Nach langem Ringen zwischen Gefallsucht und aufflammender Trotzwut knie ich mich vor Sam und sage ihm: „Sam, du musst niemanden küssen, den du nicht küssen willst, aber ‚hallo‘ sagen kann man immer!“ Ich glaube, mein Lieblingsdäne Jesper Juul wäre heute vielleicht sogar ein bisschen stolz auf mich. La Diva eher weniger.

■  Tanya Neufeldt alias Lucie Marshall schreibt hier über den zauberhaften Wahnsinn, der über uns hereinbricht, wenn frau Kinder bekommt. Vor allem, wenn frau sich an ein unabhängiges Leben gewöhnt hatte. luciemarshall.com