„Ich weiß nicht, wer mich entführt hat“

Die italienische Journalistin Giuliana Sgrena hat ein Buch über ihre Geiselnahme im Irak geschrieben. Traumatisch war für sie vor allem das Ende der Entführung: Nach ihrer Freilassung schossen US-Soldaten auf sie und ihre Begleiter

taz: Frau Sgrena, ein Buch über die Wochen Ihrer Geiselhaft zu schreiben – ist Ihnen das nicht sehr schwer gefallen?

Giuliana Sgrena: Es war schwer, zu beginnen. Nach meiner Freilassung war ich zunächst weder in der Lage zu schreiben noch zu lesen. Während meiner gesamten Gefangenschaft durfte ich nicht schreiben und lesen, und ich schaffte es dann anschließend auch nicht mehr. Doch als ich mit der Niederschrift des Buches begann, merkte ich, dass es mir sehr half. In dieser Zeit fühlte ich mich konstant unter Druck, musste Interviews geben oder Kommentare liefern. Als ich dann mit meinen Worten schrieb, in meinem Rhythmus, stellte ich fest, dass das fast eine Therapie war.

Die Geschichte Ihrer Entführung steht allerdings nicht im Mittelpunkt ihres Buches. Warum nicht?

Ich wollte das nicht: ein Buch über mich, über meine Entführung. Alle meine vorherigen Bücher drehten sich nicht um mich, und auch jetzt wollte ich meine bisherige Arbeit fortsetzen. Natürlich war es diesmal unmöglich, die persönliche Seite herauszuhalten. Aber zugleich gilt, dass die Ereignisse, die mir widerfahren sind, gar nicht verständlich wären, wenn man sie nicht in ihren Kontext stellen würde. Verstehen, wie man bis zu diesem Punkt gelangen konnte – bis zu meiner Entführung, bis zur Erschießung des Geheimdienstmannes Nicola Calipari – dazu muss man sprechen über die Barbarisierung der Verhältnisse im Irak. Die Iraker wussten vor dem Krieg noch sehr genau zu unterscheiden, wer den Krieg befürwortete und wer ihn ablehnte. All das ist heute, unter dem Besatzungsregime, verschwunden. Und dies wollte ich erzählen, um den durch den Krieg herbeigeführten Degenerationsprozess verständlich zu machen.

In Ihrem Buch bleibt offen, wer letztendlich hinter Ihrer Entführung stand.

Ich weiß es tatsächlich nicht – und das ist bezeichnend für die Situation im Irak. Alles ist dort wie im Nebel. Ich bin Pazifistin und deshalb fest davon überzeugt, dass man die US-Besatzungsarmee nicht mit der Waffe bekämpfen kann. Aber zugleich erkenne ich das Recht eines Volkes an, auch bewaffnet gegen eine ausländische Besatzung zu kämpfen. Ich könnte aber nie sagen, dass ich auf Seiten des irakischen Widerstands stehe, denn dieser Widerstand hat sich keine klare politische Gestalt gegeben. Ich weiß nicht, was der Widerstand will, ich weiß nur, was meine Entführer mir sagten: Wir wollen unser Land befreien. Wunderbar, gab ich zurück, und ausgerechnet mir erzählt ihr das. Das ist zugleich der einzige klare Punkt, an dem die Grenze zwischen Widerstand und Terrorismus verläuft: Der Terrorismus will nicht das Ende der Besatzung. Aber ich weiß absolut nicht, welche Zukunft der Widerstand anstrebt, welchen Irak er einmal will. Ein Land, in dem die Scharia herrscht? Ein laizistisches Land? Ein geeintes Land? Der Widerstand ist ein Bündel aus sehr unterschiedlichen Komponenten. Da sind die Saddamisten, da sind die Nationalisten der ersten Stunde, als Baath noch eine laizistisch-sozialistische Partei war, da sind die Stammesführer, die gegen fremde Einmischung kämpfen, und auch die religiösen Fundamentalisten. In diesem Nebel bewegte ich mich am Morgen meiner Entführung.

Sie haben von anderen Kriegsschauplätzen berichtet. Sind Sie je einer vergleichbaren Feindseligkeit begegnet?

Nein. Ich habe ja nie direkt vom Schlachtfeld berichtet, und ich verstehe nichts von Waffen, ich könnte das nicht. Ich habe immer das erzählen wollen, was hinter dem Krieg steht, das Leben der Menschen, und ich bin immer auf große Gesprächsbereitschaft gestoßen, weil ich denen eine Stimme geben wollte, die keine Stimme hatten. Im Irak ist das heute nicht mehr möglich. Wenn du es machst, riskierst du sofort, entführt zu werden. Das sagen mir auch meine irakischen Freunde, die alle Gegner der Besatzung sind, aber nicht zum bewaffneten Widerstand gehören. Die sagen mir, „wir wollen wirklich, dass du in den Irak zurückkommst – aber wir können dich nicht beschützen, wir leben selbst zwischen zwei Fronten“. Einer meiner Freunde hat mir das an den Menschenrechten erklärt: „Wenn wir über Menschenrechte reden, heißt das für die Amerikaner, dass wir die Vorfälle in Abu Ghraib anklagen, während die vom irakischen Widerstand sofort misstrauisch werden, weil die Menschenrechte ja eine westliche Erfindung seien.“

In einem Kapitel schildern Sie den Moment, in dem Sie glaubten, Ihre Entführer wollten Sie töten. Dachten Sie, es handele sich bei den Leuten um Mitglieder der Gruppe von al-Qaida und ihrem Anführer al-Sarkawi?

Bei meiner Entführung begriff ich schnell, dass die Entführer Iraker waren, während die große Mehrzahl der Dschihadisten aus dem Ausland stammt. Mir schien es sich auch nicht um gewöhnliche Kriminelle zu handeln, dazu waren sie zu politisiert. Aber auch die Zugehörigkeit der Entführer zum irakischen Widerstand war ja keine Überlebensgarantie. Als ich dann im Fernsehen das Ultimatum zu meiner Entführung sah – insgesamt konnte ich in den vier Wochen nur zweimal fernsehen – war das für mich ein brutaler Schlag.

Von der Entführung sind Ihnen Traumata und starke Ängste geblieben. Bei der Lektüre wird aber deutlich, dass viele dieser Ängste stärker an den Ausgang – die Erschießung Caliparis – als an die Entführung selbst gekoppelt sind.

In der Tat war das Nachspiel das größte Trauma für mich. Wenn ich heute Klaustrophobie empfinde, wenn ich nur bei eingeschaltetem Licht schlafen kann, dann ist das natürlich die Folge der Geiselhaft, als ich vier Wochen in einem fast immer dunklen Raum eingesperrt war. Doch der Ausgang der Entführung war ein noch größerer Schock. Erst musste ich mit verbundenen Augen eine halbe Stunde allein in einem Auto auf meine Befreier warten, in einem Auto, das nach Angaben meiner Entführer voller Sprengstoff war. In dieser Lage eine halbe Stunde auszuharren, während man in der Luft ein amerikanisches Flugzeug kreisen hört, ist purer Terror. Außerdem dachte ich, dass ich womöglich bloß an eine andere Gruppe ausgeliefert würde. Als dann endlich Calipari kam, hat er es geschafft, mir sofort Vertrauen einzuflößen. Mir fiel es natürlich schwer, von einer Stimmung blanken Schreckens zu einer rundum euphorischen Stimmung umzuschalten, aber langsam wurde mir klar, ich bin frei, ich kehre nach Hause zurück. Und genau in diesem Moment haben sie das Feuer auf uns eröffnet. Als ich dann bemerkte, dass Calipari nicht mehr sprach, war das für mich das Ende. Ich werde nie den Tag meiner Befreiung als Freudentag empfinden und ihn feiern können. Wie kann man ein Ereignis feiern, das zugleich den Tod eines anderen Menschen bedeutet? Das ist wie ein Schleier, der sich nie verziehen wird. Als sie Calipari hochhoben, der auf mir lag, war es, als wenn sie auch ein Stück von mir weggenommen hätten. Und dieses Stück werde ich nie zurückerhalten. Ich bin entsetzt bei dem Gedanken, dass sich jetzt bald meine Entführung, dann meine Freilassung jähren werden. Ich habe Calipari nur zwanzig Minuten kennen gelernt, und ich begriff sofort, dass er eine Ausnahmeperson war. Viele in Italien haben mir das bestätigt, auch wenn Calipari Geheimdienstmann war.INTERVIEW: MICHAEL BRAUN