Wo die Zeit zum Stillstand kommt

TRÖDEL Jonas Wilisch zeigt Porträts von Neuköllner Trödelhändlern in der Fachhochschule Potsdam

Schleichend scheint die Reglosigkeit der Objekte auf die Händler überzugehen

VON STEFFEN SIEGEL

Mariola lacht so laut, dass man es selbst auf dem Bild noch zu hören glaubt. Ob die Teppichrolle oder der bedrohlich über ihr schwebende Beistelltisch im nächsten Augenblick auf sie herabstürzen könnten, scheint sie nicht wirklich zu kümmern. Und wenn die Musik im Radio stimmt, dann tanzt sie sicher zwischen all den aufgetürmten Möbeln, die sichtlich schon bessere Tage erlebt haben.

Trödelläden sind seltsame Orte: In ihnen scheint die Zeit stehen geblieben und irgendwie zu sich selbst gekommen zu sein. Auf Mode und Geschmack muss keine Rücksicht genommen werden. Unordnung ist hier das Programm, und unterschiedslos wird auf engem Raum alles neben- und übereinandergestapelt, was die Möbelhäuser der letzten Jahrzehnte so hergaben: die Anrichte aus den 50ern, der auf Hochglanz polierte Couchtisch aus den 70ern, der genauso unbequeme wie wacklige Bürostuhl aus den 80ern und, in diesem Kreis eigentlich noch ein Jungspund, das hochkant gekippte Kunstledersofa aus den 90ern. Mariola jedenfalls hat sich in diesem Mikrokosmos vergangener Inneneinrichtungen so häuslich eingerichtet, als ob es gar nicht so wichtig wäre, für all das tatsächlich noch einen Käufer zu finden.

Bloß nichts umstoßen!

Mit geradezu enzyklopädischer Gründlichkeit ist der Berliner Fotograf Jonas Wilisch in den vergangenen zwei Jahren im Neuköllner Kiez von Trödelhändler zu Trödelhändler gezogen, um an einer Porträtserie von erstaunlicher Eindringlichkeit zu arbeiten. Eindringlich kann man hier ganz wörtlich nehmen. Jeder kennt diese sonderbare Situation beim Betreten eines Trödelladens: Man steht dort in eigentümlich privaten Räumen und zieht die Schultern ein, um bloß nichts umzustoßen. Am Ende kann man das Gefühl nicht recht abschütteln, mit dem suchenden Blick des Kunden eigentlich in fremden Wohnzimmern herumzuschnüffeln.

Jedes Möbelstück hat seine eigene Geschichte und erinnert mit den allenfalls nachlässig bereinigten Gebrauchsspuren an namenlose Vorbesitzer, die vermutlich nur ein paar Häuser weiter gewohnt haben. Solange sich aber keine neuen Besitzer finden, sind es, wie Mariola in ihrem Laden in der Flughafenstraße, die Händler selbst, die alle diese Objekte in einer geradezu altmodischen Form der Zwischennutzung am Leben halten.

Wilisch berührt eine fein gezogene Grenze zwischen öffentlich und privat; und fordert sie mit seiner Mittelformatkamera nachdrücklich heraus. Im Gepäck hatte der Fotograf ganz offenbar aber nicht allein seine Hasselblad, sondern auch eine große Menge Geduld. Denn das Spiel zwischen Intimität und Distanzierung, das in allen diesen Porträts sichtbar wird, ist die Arbeit eines genauso hartnäckigen wie sensiblen Soziologen.

Hans zum Beispiel scheint in seinem Laden zwischen Plastikstorch und Plüschbernhardiner beinahe verloren zu sein. Er hütet dort mitten auf der Weserstraße ein sonderbares Bestiarium künstlicher wie lebendiger Tiere. Dem Angorahasen in seinem Arm gilt alle Aufmerksamkeit; der Fotograf bleibt in diesem Kosmos außen vor und kann gerade deshalb umso genauer hinsehen.

Das Auge des Voyeurs

Insgesamt 15 dieser Porträts aus Neuköllner Trödelläden sind gegenwärtig in der Bibliothek der Fachhochschule Potsdam zu sehen. Wilisch widersetzt sich dem längst zur Gewohnheit gewordenen Ausstellungsgeschmack: Keine großformatigen, auf Hochglanz polierten und an die Wand gebrachten Tableaus werden präsentiert. Es sind kleine graue Boxen, in denen die Neuköllner Szenen eingeschlossen werden – oder beinahe gefangen sind. Wer mehr sehen will, muss durch ein Okular blicken und wird sich dabei unwillkürlich fragen, ob es nicht bereits das Auge des Voyeurs ist, das hier so neugierig schaut.

Geli und Timmy würde dies vermutlich gar nicht stören. Sie passen ohnehin nur mit Mühe in die Enge dieser kleinen Leuchtkästen: Ihr Rixdorfer Möbelladen füllt eine ganze Industriehalle, und entsprechend selbstbewusst haben sie auf einer Landschaft außer Kurs gelangter Polstersofas Platz genommen. Irgendwo unterhalb der Hallendecke verliert sich ihr Blick; sie selbst aber verharren genauso teilnahmslos wie die endlose Zahl all dieser Sitzmöbel.

Es ist eine hintersinnige Pointe von Wilischs Fotografien, dass die Regungslosigkeit all dieser Objekte sich ganz schleichend auf ihre Händler zu übertragen scheint. Unter der Hand werden die Trödelläden so zu versteckten Rückzugsräumen, in denen die Geschwindigkeit des Alltags zum Stillstand gekommen ist. Youssef schließlich ist mit seinem Sohn Julian noch einen Schritt weiter gegangen: Wilisch zeigt beide im hintersten Kellerwinkel unterhalb des Ladens in der Urbanstraße. Kein noch so neugieriger Kunde wird bis hierher vordringen.

„Räumen“ nennt der Fotograf seine Erkundungen in diesem prekären Reich der Dinge. Von der rücksichtslosen Invasion einer Wohnungsräumung, die ja stets auf Tabula rasa zielt, sind alle diese Szenen aber weit entfernt. Vordergründig geben sie sich als ein melancholischer Blick in schnell übersehene Winkel des Berliner Alltags zu erkennen. Hat man sich jedoch einmal auf das von Wilisch inszenierte Guckkastenspiel eingelassen, wird sichtbar, wie alle diese Objekte und ihre vorübergehenden Besitzer wechselseitig aufeinander zeigen, sich dabei kommentieren und in beinahe verwirrender Weise einen gemeinsamen Raum eher bewohnen als einfach nur teilen.

Noch bis Anfang April ist es in Potsdam möglich, Blicke in solche halb öffentliche, halb privaten Räume zu werfen. Für das Frühjahr steht eine weitere Station der Ausstellung in Friedrichshain in Aussicht. Dringend zu wünschen bleibt aber, dass sie über kurz oder lang schließlich auch an den Ort ihrer Entstehung, nach Neukölln also, zurückkehren wird.

Jonas Wilisch: „Räumen“. Hochschulbibliothek der Fachhochschule Potsdam, Kiepenheuerallee 5. Mo.–Fr. 9–20 Uhr, Sa. 9–14 Uhr. Bis 4. April 2010