In jedem Kessel blubbert Tizians Rot

Ungarn ist ein katholisches Land mit Hang zu lukullischen Sünden, und Gulasch ist der Name der fleischlichen Verwandlung

von TILL EHRLICH

Die ungarische Nationalstraße Nummer sechs führt von Budapest gen Süden, parallel zur Donau, in Richtung kroatische Grenze. Hinter der Stadt Szekszárd geht der Blick auf ein Schild am Straßenrand. „Vendéglő“, Restaurant, steht darauf, umwickelt von blinkenden Lichtschlangen. Der Gastraum ist eine Holzveranda mit hellgrünem Ölsockel. Vom Dach tropft es, Schnee schmilzt, es ist Ende Januar, aus der Küche zieht warmer Dunst heran, es riecht nach Paprika und Schweineschmalz. Über dem Tresen wölbt sich ein vergilbtes Pepsi-Cola-Schild, daneben vibriert der Kühlschrank, der Kellner trägt ein ausgebeultes weißes Sakko, nimmt wortlos die Bestellung auf. Vier Minuten später stellt er behutsam die Suppe und eine Schale mit zerriebenen, getrockneten Paprikaschoten vor uns ab.

Csontleves, zu Deutsch Knochensuppe, ist eine klare Brühe mit Fadennudeln, Möhren und Petersilienwurzeln. Es ist die obligate Suppe in Ungarn, die in vielen Restaurants angeboten und gern variiert wird, mal mit Leberknödeln, mal mit Grießnockerln. Eine bekömmliche, in ihrer Einfachheit beglückende Suppe mit wechselnder Einlage, ähnlich dem, was bei uns einmal Tagessuppe hieß und fester Bestandteil der gutbürgerlichen Küche war, aber seit zwei Dekaden nahezu ausgestorben ist, ersetzt von Ingwer-Karotten-Crème und Zitronengrasschaumsüppchen.

Ungarns Küche ist bislang stoisch unbeeindruckt von internationalen Trends geblieben. Der Gesundheitswahn hat Ungarn noch nicht erreicht, auch der protestantische, norddeutsche Ekel und die Vorurteile gegen Innereien sind unbekannt. Ungarn ist ein katholisches Land, seine Landsleute sind verfressen, und sie genießen die Abgründe sündiger Völlerei. Die Begegnung mit der ungarischen Küche ist eine Grenzüberschreitung, bedeutet, anachronistische Genüsse kennen zu lernen: hemmungslose Sahneküche und Mehlspeisen, Innereien und Paprikaorgien. Fast alles schwimmt in Fett, rote Fettaugen bedecken viele Speisen. Sich dieser Küche hinzugeben heißt, sich ihr zu ergeben. Es bedeutet den Abschied vom Normalgewicht und die Hinwendung zu dem Gedanken, dass die Intensität des Geschmacks vom Fett transportiert wird. Das Paradox: Man sieht in Ungarn weniger Übergewichtige als bei uns.

Eine halbe Autostunde nördlich von Szekszárd liegt die Stadt Kalocsa. Dort wächst, so heißt es, bester Paprika. Auf den heißen Schwemmlandböden des Donaugebiets reifen die Schoten des giftigen Nachtschattengewächses zu aromatischer Schärfe heran. Noch weiter südlich, in der Ungarischen Tiefebene, bei Szeged, liegt das zweite Hauptanbaugebiet, es ist der sonnenreichste Teil des Landes. Die feuerroten Schoten entwickeln ätherische Öle, Vitamin C und Süße satt. Sie werden später in der Sonne getrocknet und zu Paprikapulver zermahlen. Die Schärfe kommt durch Capsaicin in den Paprika, einen Stoff, der die Haut reizt und die Durchblutung anregt. Je mehr Capsaicin die Früchte enthalten, desto schärfer schmecken sie. Es gibt höchst unterschiedliche Züchtungen, süße und milde Paprika enthalten wenig bis kein Capsaicin. Entsprechend variieren beim Paprikapulver die Schärfegrade: Das Spektrum reicht von höllischer Schärfe (Peperoni, Rosenpaprika) über mittelscharf (edelsüß, delikatess) bis zu Pulver ohne Schärfe (mild). Paprikapulver muss rot leuchten, nur dann ist es frisch und aromenreich. Erst mit heißem Fett und in dampfender Flüssigkeit gibt es seine Aromen und feuerroten Farbstoffe frei. Die Kunst besteht darin, das Pulver sekundenschnell zu erhitzen und blitzartig mit Wasser zu löschen – ohne es verbrennen zu lassen. Rohes Paprikapulver schmeckt fad, verbranntes bitter.

In den alten Kochbüchern Ungarns fehlt der Paprika gänzlich, erstmals findet er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erwähnung. Ob es die Türken waren, die den Samen des südamerikanischen Nachtschattengewächses während ihrer 150-jährigen Herrschaft einführten oder ob er über Spanien ins Land gelangte, daran scheiden sich die Geister. Gewürzpaprika wurde erst während der napoleonischen Kontinentalsperre als Pfefferersatz bekannt. Zunächst war es das Gewürz der unteren Schichten, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts drang es in die höheren gastronomischen Sphären des ungarischen Bürgertums und der Aristokratie vor. Heute ist Paprika das Synonym für die ungarische Küche schlechthin, dabei werden etwa die habsburgischen, osmanischen, transsilvanischen oder donauschwäbischen Einflüsse gern ausgeblendet. Paprika ist zeitgeschichtlich das jüngste Segment der ungarischen Küche. In kürzester Zeit hat sie ihn aufgesogen und wurde so selbst grundlegend verändert. Dabei ist der unaufhaltsame Aufstieg der Paprika symbiotisch mit Ungarns nationalem Heiligtum, dem Gulasch, verbunden.

Gulasch ist Verwandlung. Gemeinsam sieden Fleischstücke, Zwiebeln und Paprika stundenlang, am Ende entsteht etwas, was mehr als die Summe seiner Zutaten ist: Pörkölt heißt es in Ungarn, bei uns Gulasch. Anders als etwa bei kurz gebratenem Fleisch, das den Eigengeschmack bewahren soll, ist beim Pörkölt der Fleischgeschmack transformiert, ebenso wie der des Paprikas. Er verliert sein rotes Leuchten, erinnert an das bräunliche Rot Tizians, umzieht mit Sämigkeit die weichen Fleischbrocken, die eins geworden sind mit der saftigen Soße. Sie lebt von der gebrochenen Schärfe und sanften Süße des Paprikas.

Ein Pörkölt braucht Zeit, drei bis vier Stunden mindestens, je länger es vor sich hin blubbert, desto besser gelingt es. Die Fleischbrocken sollen am Ende nicht al dente, sondern aufgeweicht und gelatinös sein. Oft werden auch Schweinsfüße mitgekocht, die Gelatine bilden und zur natürlichen Bindung und sämigen Konsistenz beitragen. Die Schweinsfüße zerfallen, gehen im Pörkölt auf, Knöchelchen und Schwarte fischen die Ungarn gern heraus, um sie mit Genuss abzuzutzeln.

Die Symbiose von Geflügel, Sahne und Paprika heißt Paprikahuhn. Die Süße von Sahne und Paprika verbindet sich mit dem Hühnergeschmack. Doch die Vollendung ist Kakas-Pörkölt, das aus einem alten Hahn und ohne Sahne geschmort wird. Das Fleisch des Hahns ist dunkel, wildfarben. Es riecht ein bisschen nach Harn. Nach etwa sechs bis acht Stunden geduldigem Köcheln haben sich auch der Gockel und der Paprika in ein köstliches Pörkölt verwandelt.

Eigentlich wollen die Ungarn alles mit Paprika weich kochen, die Gulaschfamilie ist groß und weit verzweigt. Pörkölt wird vorwiegend aus dunklem Fleisch wie Pferd, Lamm, Rind, Schwein, Wild, Gans und Ente bereitet – meist ohne Sahne. Gern werden auch Innereien verwendet wie Hoden, Herzen und Mägen (Zuza-Pörkölt) oder auch Kutteln (Pacal-Pörkölt) und geräucherte Schweineknorpel (Porcogó-Pörkölt), sie gelten in Ungarn als preiswerte Delikatessen.

Ein naher Verwandter des Pörkölts heißt Paprikasch. Er wird mit weniger Paprika, dafür mit reichlich saurer Sahne gekocht. Für Paprikaschs wird vor allem helles Fleisch von Kalb, Huhn, Pute, Fisch, Krebsen und Meeresgetier genommen. Eine Besonderheit ist Tokány, geschnetzeltes Schmorfleisch, das in der Regel mit ganz wenig oder ohne Paprika gegart wird. Das Fleisch wird nicht in Würfel, sondern in längliche Streifen geschnitten. Das Gericht kommt aus Siebenbürgen, das lange Zeit zu Ungarn gehörte.

Das Wort „Gulyás“ bezeichnet in Ungarn nicht Gulasch, sondern eine Suppe, den Kesselgulasch. Es ist vermutlich die Ursuppe der Magyaren, bezeugt die nomadische Herkunft des asiatischen Reitervolks. Vermutlich wurde die Speise einst aus gedörrtem Fleisch und Wasser gekocht, Paprika war damals unbekannt. Mit den Zeitläuften sollen die Hirten der Ungarischen Tiefebene den Kesselgulasch weiterentwickelt haben, zu einer Art Eintopf. Das Paprikapulver kam spät dazu, vermutlich erst im Zeitalter der Romantik. Gulaschsuppe wird auch heute noch oft im Bogrács, dem offenen Kessel, über der Holzglut gekocht. Beliebt ist auch die tränentreibende Schärfe der ungarische Fischsuppe, Halászle genannt. Gebändigt wird ihre Glut mit der Milde von Topfennudeln, die dazu gereicht werden. Im Bogrács werden nicht nur Suppen, sondern auch Pörkölt und Paprikasch zubereitet. Das Holzfeuer gibt an die im offenen Kessel siedenden Speisen rauchige Aromen und somit zusätzliche Würze ab. Beim Garen über dem Feuer verschwimmen die Grenzen zwischen Genuss stiftender Tradition, touristischer Folklore und Puszta-Kitsch.

Paprika hebt nicht immer den Geschmack. Die Tourismusküche des sozialistischen Ungarn begann in den Sechzigerjahren, die Schärfe des Paprikas gezielt einzusetzen. Zum einen ließ sich so der Getränkeabsatz erhöhen, zum anderen kann Paprika mangelnde Frische und Qualität von Zutaten verdecken. Heute müsste die ungarische Küche neu und fettarmer interpretiert werden, doch damit tut sie sich schwer. Zwar kann man in Budapest inzwischen auch Lammrücken mit Brokkoliröschen ordern, doch die gutbürgerliche und jüdische Kontinuität der ungarischen Kochkultur ist in Krieg und Kommunismus verloren gegangen. Nur langsam kommen die Ungarn wieder zu sich und damit zu einer kulinarischen Kultur, die mehr ist als Paprika und Gulasch.

Die Besessenheit der Ungarn von Paprikapulver erstickt die bürgerlichen und multiethnischen Wurzeln ihrer alten europäischen Kochkultur. Dabei ist sie eine der interessantesten überhaupt; sie könnte ein markantes Gegenbild zur mediterranen Küche sein. Sie besitzt ein eigensinniges geschmackliches Spektrum und authentische Grundprodukte wie Mohn, Mais, Topfen, Sauerkohl oder Walnüsse, aus denen unzählige Köstlichkeiten wie Strudel, Nudeln und Palatschinken entstehen können. Zudem gibt es noch seltene Tierrassen wie das Mangalica-Schwein, das Zackelschaf oder das langhörnige Graurind. Und worüber man nicht spricht: Wild. Wildern ist beliebt in Ungarn, Wildfleisch verschwindet daher oft insgeheim in der Paprikasalami oder im Pörkölt. Gerade die inneren Widersprüche, ihre aromatische Intensität und Großzügigkeit machen Ungarns Küche unverwechselbar. Doch wer, wenn nicht die Ungarn selbst, erlöst sie vom Exzess des Paprikas?

TILL EHRLICH, 41, ist freier Autor in Berlin. Ungarns Küche vor der Allgegenwart des Paprikas stellt er in drei Wochen vor