Bei Waldschrats

Ganz weit draußen: Gerhard, Heinz und Burkhard wohnen im Norden Brandenburgs, in der Uckermark, gemeinsam auf einem Bauernhof – Gerhard im Haus, Burkhard im Stall und Heinz in einer Laube. Ein frohes Landleben ist es nicht

von THOMAS FEIX (TEXT) und OLIVER SPERL (ILLUSTRATIONEN)

Als Strafgefangener kam Burkhard bis nach Bötzow und Prenzlau. So weit ist er als freier Mann noch nie gekommen. Er saß wegen Körperverletzung, wegen Diebstahl, wegen allem. Insgesamt fünfzehn Jahre lang. Er soll was mit den Hunden gehabt haben, die er klaute. Auch deswegen soll er gesessen haben. Es stimmt nicht. Aber es passt gut. Finden die, die es erzählen, in Jakobshagen, in Klaushagen, es heißt, sogar in Templin wissen sie es. Burkhard der Hundeficker, sagen alle.

Er kann nachts nicht schlafen, hat den Fernseher an und das Neonlicht über der Matratze. Er weiß nicht, wo die Ratte ist. Früher war sie hinter der Futterkrippe. Jetzt ist sie wahrscheinlich unter dem Strohballen. Neben der Matratze hat er ein Kofferradio, mit Draht umwickelt und einer langen Antenne dran, er versucht, den Polizeifunk abzuhören, vielleicht wollen sie ihn doch noch holen kommen, weiß man’s denn. Im Stall ist es eisig, bald wird es Winter sein. Burkhard schwärmt vom Gefängnis. Pro Mann einen Fernseher, drei Mahlzeiten am Tag, Dusche, Heizung, bei Bedarf Einzelzelle, herrlich, sag ich dir, sagt er. Aber keine Frauen. Er will überhaupt nicht rein, nie wieder, und dennoch schwärmt er vom Gefängnis. Er will nur reden, irgendwas.

Bei der Begrüßung sagen Gerhard, Heinz und Burkhard: keine Notizen. Alles, nur keine Notizen. Weshalb, sagen sie nicht. Keine Antwort, sagen sie. Sie sagen Guten Tag und geben die Hand, setzen sich hin und gucken. Aber sie wollen nicht, dass Notizen gemacht werden. Und bitte auch kein Band einschalten. Auch nicht heimlich. Sie wollen nicht, dass man ihnen Fragen stellt. Heinz sitzt im Sessel, Gerhard auf dem einzigen Stuhl, den es in der Küche gibt. Gerhard raucht. Seine Augen zucken. Sie beobachten die Zigarettenglut. Alle drei rauchen: Gerhard, Heinz und Burkhard.

Heinz schnappt sich die Hühner einfach so. Er packt sie an den Beinen und am Schwanz. Hat gleichzeitig die Flügel im Griff. Er zieht den Kopf so über den Hackklotz, dass er gerade und gestreckt daliegt, und dann hackt er zu. „Gerhard“, sagt er. „Letzte Nacht hat der Fuchs wieder eine Henne geholt.“ Er hat eine Flasche im Arm. Burkhard steht an der Spüle. „Verdammt“, sagt Gerhard, und seine Augen zucken. „Schon das zweite Mal diese Woche.“ Er hat eine Mauer um den Hof gezogen. An manchen Stellen ist sie mannshoch. Eine Quermauer teilt den Hof. Eine Hälfte sind Haus und Schuppen, die andere ist ein Fichtenhain.

In den letzten sechs Jahren hat er eine Million Steine vermauert. Große, eckige aus Granit sind dabei, so groß wie Bowlingkugeln, bloß eckig, und kleine, so klein und rund wie Murmeln. Ob es wirklich eine Million Steine sind, weiß Gerhard nicht genau, jedenfalls sind es sehr, sehr viele. Eine Million, ein Symbol. Wie die Mauer. Die Zeiten ringsum sind so. Symbolisch.

Die Gegend zwischen Templin und Boitzenburg hat schmucke Dörfer, sauber asphaltierte Straßen, Weiden links und rechts, auf denen fette Rinder grasen. Die Autos fahren schnell, und drinnen sitzen junge Leute. Viele sind noch nicht ganz von der Schule runter und überlegen schon, ob sie sozialhilfeberechtigt sind oder eher Hartz-IV-Anwärter, und an der ganzen Misere oder was sie dafür halten, sind immer die anderen schuld. Potzlow ist nahe, 20 Kilometer. Dort haben vor drei Jahren drei Jugendliche einen anderen Jugendlichen gefoltert, mit einem Stein erschlagen und die Leiche in eine Jauchegrube geworfen. Einfach so.

Es gibt diese Sache mit der Hündin. Burkhard hatte ihr eins mit dem Vorschlaghammer verpasst und sie in Gerhards Vorgarten vergraben. Seither wird geredet. Von Burkhards Sperma im Leib der toten Hündin. Die Furcht vor den eigenen Abgründen ist es. Dass sie eines Tages zum Vorschein kommen könnten. Es gibt keine Intimsphäre, jeder redet über jeden, jeder weiß alles über jeden, jeder will von sich selbst ablenken, streut Gerüchte, nach allen Seiten. Jeder Landstrich hat seinen Hundeficker. Burkhard ist auch ein Symbol. Er ist der Schwächste, der Angreifbarste von allen. Er hat nichts und niemanden.

Ein Tag ist wie der andere auf dem Hof. Kennt man einen Tag und eine Stunde, kennt man alle Tage und Stunden. Die, die schon waren, und die, die noch kommen werden. Zu dritt reden Gerhard, Heinz und Burkhard wenig. Als misstrauten sie sich oder als hätten sie Geheimnisse voreinander und keine Gemeinsamkeiten. Sie wechseln kaum die nötigsten Worte miteinander. Einzeln sind sie nicht zu bremsen. Heinz hält zu Gerhard, immer, Burkhard wird nur geduldet. Und dann kommt der Moment, wo sie sich wiederholen, dasselbe noch einmal erzählen. Und man denkt sich: Wozu? Aber worüber sollten sie sonst reden als immer wieder über dasselbe?

„Brauch jetzt Kaffee.“ Burkhard tritt an die Kaffeemaschine. Die Kanne ist leer. „Nie ist Kaffee da, wenn ich welchen will, versteh das nicht.“ Die Küchenfenster sind trübe. Der Fußboden ist weiß gekachelt und schmutzig. „Mach neuen“, sagt Gerhard, ohne den Blick von der Zigarette zu nehmen. Sie geht immer aus, es liegt am Tabak. Grob ist er und krümelig. Gerhard hält das Feuerzeug hoch, den Daumen am Rädchen. „Und nimm den starken, hörst du? Den aus der blauen Dose, den Jacobs.“

Gerhard, Heinz und Burkhard sind um die 50. Gerhard ist der Älteste. Er ist hoch gewachsen, hat Halbglatze, graues Haar, dicke Brauen und tief liegende Augen. Der Hof, das Federvieh, alles gehört ihm.

Es riecht nach alten Möbeln. „Der Habicht. Wenn der kommt und der Hahn nicht aufpasst, dann holt er sich was.“ Heinz macht mit der Hand eine kreisende Bewegung. „Ja.“ Sein rechtes Auge. Es hängt und trieft. Burkhard blickt zu Gerhard, dann zu Heinz. Die beiden sehen ihn nicht an. Eine Glucke mit sieben Küken kommt herein. Sie reckt den Kopf, hebt ein Bein. Sieht dann zu Heinz hinüber. Er sitzt zusammengesunken im Sessel. Er ist betrunken. Es ist halb fünf nachmittags.

Heinz kam vor fünf Jahren zu Gerhard. Das Auge, das rechte, das hängt und trieft, ist ein Glasauge. Als er sieben war, traf ihn ein Splitter von dem Keil, mit dem sein Großvater Wurzeln spaltete. Seine Mutter gab Gerhard 4.000 Mark, bevor sie starb. Gerhard bestellte für Heinz eine Laube aus Fertigteilen. Bei Neckermann. Die Mutter wollte nicht, dass der Sohn, der ihr noch geblieben war, im Obdachlosenheim endet oder auf der Straße. Seit die Laube da ist, hat Heinz Gerhards Hof nicht mehr verlassen. Die Mauer. Schon von weitem ist das kleine rote Dach der Laube neben dem großen roten Dach von Gerhards Haus zu sehen.

Fahles Licht fällt durch die Fenster. Die Wolken sind bleifarben, es regnet viel, und der Wind fegt über die Hügelketten. Der Kaffee läuft in die Kanne. Heinz’ Hände sind geschwollen. Sie haben einen komischen Glanz. An der rechten Hand fehlt der Mittelfinger. „Hab ich mir in den Arsch gesteckt, und dann blieb er drin.“ Heinz spricht, als fehlte ihm auch ein Stück der Zunge, die Stimme klingt kollernd. Er öffnet den Mund, er verharrt, und dann kommt ein Krächzen, stoßweise. Er lacht.

Gerhard und Burkhard lachen auch. Heinz hat im Sägewerk gearbeitet, bis er mit dem Finger in die Kreissäge kam. Er ist Invalidenrentner. Es ist der Alkohol, der Finger, das Auge. Vor allem der Alkohol, eine Flasche Klarer am Tag, fünfunddreißigprozentiger. 3,79 Euro der Dreiviertelliter. Burkhard scheucht die Glucke und die Küken nach draußen und schließt die Tür. Gerhards Hof steht in Suhrhof, einem Weiler aus sechs Höfen, zwölf Kilometer von Templin entfernt. Die Nachbarorte sind Jakobshagen und Klaushagen. Orte, durch die man mit dem Auto in einem Augenaufschlag durch ist. Suhrhof steht entlang dem Kopfsteinpflasterweg, der von der Chaussee nach Boitzenburg abzweigt und an Wiesen und Feldern vorbeiführt.

Burkhard kam vor zwei Jahren zu Gerhard. Er hatte in einem Wäldchen gehaust, in einer Mulde, unter einem umgestürzten Baum. Aß aus Abfalleimern und Mülltonnen. Die Polizei suchte ihn. Er sollte in ein Obdachlosenheim. Er war auf den Hof gekommen und hatte Gerhard angebettelt, ihn aufzunehmen. Die Stadt, das Heimpersonal, die Insassen. Burkhard hatte Angst. Gerhard wollte nicht. Er wollte ihn nicht auf dem Hof haben. Burkhard trank. Er klaute und prügelte sich. Prügelte sich wegen Frauen und manchmal auch bloß so. Er klaute Hunde, er liebt sie. Er liebt die Freiheit, sagt er. Er zieht das Unglück an, schon immer.

Es ist nicht die Hühnerkacke auf dem Fußboden der Küche, es sind nicht die randvollen Aschenbecher, es ist nicht der Geruch, der sich in der Nase festsetzt. Es stört nicht einmal die Tristesse in den Worten und Gesten. Das, was einem seltsam vorkommt, ist, dass den dreien gegenüber keine Gefühle entstehen. Kein Mitleid, kein Abscheu, nichts. Man sieht sie sich an und wie sie leben und denkt: Aha. Gerhard, Heinz und Burkhard haben die Probleme, die alle haben. Alkohol, Einsamkeit, Resignation, Depression, die Macht des Alltags. Träume und Sehnsüchte, die nie in Erfüllung gegangen sind. Die drei haben eine Möglichkeit gefunden, damit umzugehen. Sie bleiben innerhalb der Mauer, eingeschlossen mit dem, was sie bewegt.

Heinz nimmt einen Schluck. Er grunzt, schraubt die Flasche mit dem Handballen zu. Für heute ist Feierabend. Er hat die Betonmischung für Gerhards Mauer gemacht, dann Holz für den Winter. Große, dicke Kloben hat er zerhackt. Mit einem Keil und der stumpfen Seite der Axt. Er trifft gut, immer. Er hat dichtes, graues Haar, in Wellen nach hinten gelegt, und einen Vollbart. Heinz ist groß, so groß wie Gerhard. Wenn Körper und Gesicht nicht vom Alkohol aufgedunsen wären, wäre er gut proportioniert.

Die Mauer hält den Fuchs nicht ab, auch nicht den Marder und den Habicht sowieso nicht. Außer im Winter baut Gerhard täglich an der Mauer, zieht sie höher. Begradigt Krummes, indem er es mit Steinen ausfüllt und Heinz’ Betonmischung dazwischenschmiert. Er mauert nach Augenmaß, nie nach Richtschnur. Heute sind es zwanzig Zentimeter gewesen, die er die Mauer höher gezogen hat. Auf einer Länge von drei Metern, fünfzehn Zentimeter breit. Dort, wo sie einer Senke folgt und Gerhards Tabakpflanzen stehen, in fünf langen, schönen Reihen.

Burkhard nimmt eine Tasse aus der Spüle, wischt sie mit der Hand aus und gießt sich ein, bis zum Rand. Er trägt Baseballkappe, Blousonjacke, Schnürstiefel und Jeans. Klein und kompakt ist er. Er ist eine Überlebensmaschine. Man setze ihn wo aus, und augenblicklich begönne er mit der Selbsterhaltung. Ein brauner Schleier liegt über seinen Sachen und seinem Gesicht. Der Vollbart ist dünn und kräuselt sich.

Burkhard hatte nie ein Zuhause. Seiner Mutter war er gleichgültig, der Vater erkannte ihn nicht als Sohn an. Die Großeltern nahmen ihn bei sich auf. Der Großvater war Bürgermeister von Klaushagen, Burkhards Heimatdorf. Jeden Morgen brachte er den Jungen zur Haltestelle und passte auf, dass er in den Schulbus stieg. An der nächsten Station, in Jakobshagen, stieg Burkhard aus und versteckte sich im Wald. Die Einsamkeit zieht ihn an, schon immer.

Er hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf, hat nie gearbeitet in seinem Leben. Er hat die Tiere. Aus der einzigen Wohnung, die er je hatte, musste er nach zwei Jahren wieder raus. Er hatte sie unbewohnbar gemacht. Mit den Exkrementen der 20 Hunde, die mit ihm zusammenlebten. Dazu kam sein eigener Unrat. Die nächsten 25 Jahre verbrachte er in der Gegend rund um Klaushagen. Oder im Gefängnis.

Die Uckermark ist Moränenlandschaft. Entstanden als Ausläufer der Gletscher, die in der Eiszeit aus Skandinavien kamen. Sie schleppten Mutterboden heran. Der Baumbestand ist gesund und artenreich. Es gibt viel Wild, Getreide wird angebaut, viel Weizen. Die Steine in Gerhards Mauer gehören auch zum Erbe der Moränen. Jedes Jahr kommen sie hoch, unter dem Pflug, tonnenweise, und die Bauern laden sie auf Hänger, und einen Teil davon kippen sie auf Gerhards Hof ab. Gerhard braucht dann nur noch den Beton für die Fugen. Die innere Mauer, die Quermauer, will er durch weitere Mauern ergänzen, quer und längs, labyrinthisch. Der Hof ist fast so groß wie ein Fußballfeld. Beim Mauern kann Gerhard am besten denken. Mauern und denken. Es vertreibt ihm die Zeit.

Er hat zwei Hunde, dackelartig, mit langem Fell, vier und zehn Jahre alt. Außerdem einen Ponywallach und einen Schafbock. Den Wallach und den Bock hat er sich aus einem Zirkus geholt, das Gnadenbrot. Gerhard fürchtete, dass Burkhard ihm die Hunde klaut. Das war der Grund, weshalb er ihn dann doch zu sich auf den Hof gelassen hat. Beim Mauern fiel ihm ein: Gut, ehe Burkhard mir vielleicht die Hunde klaut, nehme ich ihn bei mir auf, so habe ich ihn unter Kontrolle.

Die Hunde sind lustig. Der eine ist schwarz, der andere braun. Sie laufen immer hintereinander, der Jüngere hinter dem Älteren, schnüffeln und bellen und wollen schmusen. Der Braune, Jüngere ist sehr niedlich und fein.

Burkhard wohnt am anderen Ende von Gerhards Hofs, am Rande des Fichtenhains. Im Stall von Alpha, dem Ponywallach. Aus den Steinen der Moräne gebaut, ohne Fenster, die Wände unverputzt, und mit einer Urinrinne in der Mitte. Statt einer Tür hat er ein Gatter und einen Vorbau aus Maschendraht und Tarnnetzen. Es sieht aus wie der Eingang zu einem Bunker. Alpha schläft jetzt vorn, in einem Schuppen an Gerhards Haus. Burkhard will in dem Stall wohnen, er hat Gerhard darum gebeten – die Freiheit.

Drinnen sind Tüten, Kartons, Holz- und Metallteile. Wie Einrichtungsgegenstände. Über der Rinne liegt die Matratze, darauf ein Schlafsack. Burkhard zieht die Stiefel nur drüben in Gerhards Küche aus, nachmittags, zum Kaffee.

Er schlürft, in langen Zügen, schmeckt mit den Lippen nach, die Zunge sucht überstehende Barthaare. „Reich mal rüber“, sagt Gerhard zu ihm und meint die Kanne. Er zündet sich eine neue Zigarette an. Zigaretten und Kaffee. Für Heinz außerdem den Schnaps. Der Fernseher im Schlafzimmer läuft ohne Ton. Drei Männer und keine Frau im Haus.

Burkhard wäre lieber in der Mulde geblieben, unter dem umgestürzten Baum. Aber als er gehört hat, dass sie zwischen Gransee und Neustrelitz einen im Wald gefunden haben, den sie vier Jahre lang gesucht hatten, wollte er nicht mehr. Sie finden jeden, sagt er. Also floh er zu Gerhard auf den Hof. Nun wissen sie, wo er ist, und lassen ihn in Frieden. Er muss keine Angst mehr haben, dass sie ihn finden.

Schweine, sagt er, Scheißbullen. Als er auf Gerhards Hof kam, hatte er nicht einmal mehr einen Personalausweis.

Die Moral fehlt. Es wird keinen Höhepunkt geben. Weder einen guten noch einen schlechten. Es wird so sein, wie es dann ist. Gerhard, Heinz und Burkhard bewegen sich am Rand. Die deutsche Einheit, die weltweiten Veränderungen, die politischen und wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre haben sie nicht berührt. Sie wären unter allen Umständen so geworden, wie sie es jetzt sind. Sie stehen für nichts außer für die Tatsache, dass es unter allen Umständen Außenseiter gibt, Sonderlinge, Verlierer. Solche, die schon unterlegen waren, bevor sie begonnen hatten. Die nicht einmal die Chance hatten zu sagen, ich steige aus.

Gerhard verwaltet Heinz’ Rente und Burkhards Sozialhilfe. Er ist selber invalid geschrieben, ist es seit sechzehn Jahren, der Rücken. Gerhard besitzt ein paar Hektar Land, draußen, er macht eine Geste, als würfe er etwas sehr weit weg. Er weiß, wieso die DDR unterging. Wegen des Suffs und weil es nichts zu kaufen gab.

Er hatte nach Feierabend gesoffen und während der Arbeit vom Saufen geredet, er war Schlosser auf der LPG. Am 19. März 1990, zur ersten freien Volkskammerwahl, hörte er mit dem Trinken auf. Es war diese Marienerscheinung, die er hatte, obwohl er nicht religiös ist. Auf einmal fand er es schade um das Geld, das er vertrank. Er wusste, ab jetzt würde alles anders werden. Ab jetzt würde es sich lohnen, dass Geld nicht mehr zu vertrinken. Er würde sich alles kaufen können, was er wollte. Es ist aber nicht so, dass er ein unpolitischer Mensch wäre. Im September 1989 sammelte er in der Umgebung Unterschriften für das Neue Forum. Für eine reformierte DDR. Die Stasi aus Templin kam ins Haus, nahm ihn mit und ließ ihn am nächsten Tag wieder frei. Die Flagge mit Hammer und Sichel hängt im Flur, fleckig und blass, und manchmal legt er Ernst Busch auf und hört die alten Lieder, die Kampflieder. Spaniens Himmel breitet seine Sterne.

Alle haben sie damals gesoffen, und die meisten saufen heute noch. Burkhard hat vor zwei Jahren aufgehört. Er musste aufhören, das war Gerhards Bedingung. Heinz kann nicht aufhören. Die Flasche Klaren bekommt er von Gerhard, jeden Nachmittag um halb vier. Sie haben ihn aufgegeben. Prost, sagt er, zeigt die Zunge und zwinkert mit dem guten Auge. Viele haben sich totgesoffen. Gerhard war dabei, als sein Bruder, Gastwirt in Klaushagen, röchelnd und heulend Schleimiges erbrach, bis er verstummte.

Der jüngere Bruder von Heinz hat sich im Suff erhängt. Heinz hat ein Foto von der Hochzeit des Bruders. Es ist das einzige persönliche Stück, das er besitzt. Er schaut es sich oft an, besonders die Frau. Er tut so, als wäre es seine. Er zeigt sie auf dem Foto, und beim Lächeln werden seine Wangen rund und frisch. Die Leberzirrhose ist schon da, und Burkhard meint, der Heinz hat bloß noch zwei oder drei Jahre. Eines Morgens wird man ihn finden, mit verschleimtem, erstarrtem Gesicht, und niemand wird da sein, der um ihn trauert.

Gerhard weiß nicht, warum alle saufen, warum er damals mit dem Saufen angefangen hat. Das ist auf dem Lande so. Irgendwie hängt alles auf dem Lande mit dem Suff zusammen. Das Leben, das Sterben und sogar das Kinderkriegen. Burkhard ist im Suff gezeugt worden. Sein Großvater vertrug am meisten, deshalb wurde er Bürgermeister von Klaushagen. Gerhard zieht an der Zigarette. Er hält sie mit Daumen und Zeigefinger. Sie zittert im Rhythmus der Hand. Heinz und Burkhard schweigen.

Das platte Land. Das ist schon was. Der Horizont. Das Grün. Der Sonnenuntergang. In der Stadt wären Heinz und Burkhard welche, die tagsüber auf der Straße sind und nachts in einem Heim. Bei Gerhard sind sie Heinz und Burkhard. Mit einem Gesicht, einem Leben, einer Geschichte. Gerhard, der einen Sohn hat, der trinkt und nicht arbeiten geht, das einzige Kind. Ohne Gerhard wäre Heinz wahrscheinlich längst tot. Den Schnaps für ihn hat Gerhard unter dem Bett. Heinz würde vier Flaschen am Tag schaffen. Auch fünf, wenn er sie bekäme. Aber Gerhard gibt ihm immer nur eine. Und lacht dabei über ihn. Er meint es nicht ernst.

Ohne Gerhard wäre Burkhard wahrscheinlich längst wieder im Gefängnis gelandet. Oder am Suff zugrunde gegangen wie sein Onkel, der nach dem Großvater Bürgermeister von Klaushagen war. Oder totgeschlagen von den Hundebesitzern, denen er den Hund geklaut hat.

Er hatte in Boitzenburg einen angeleinten Kampfhund losgemacht und mitgenommen, einen Pitbull. Die Jungen von Jakobshagen, Klaushagen und Boitzenburg machten Jagd auf Burkhard, über Tage hinweg, sie zogen in Gruppen über die Dörfer, sie hatten Spaß, und sie kriegten ihn. Er hatte sich versteckt, zuletzt in einer alten Scheune, aber sie kriegten ihn. Sie traten ihn zusammen. „Noch einmal, und …“, sagten sie zu ihm, als sie mit ihm fertig waren. Es war Selbstjustiz, und keiner hat es verhindert. Hat es verhindern wollen.

Seit er bei Gerhard ist, hat Burkhard nicht nur einen festen Wohnsitz, einen Personalausweis und Sozialhilfe. Er hat auch eine Aufgabe. Gerhard hat ihm einen Rasenmäher gekauft, mit Motor, Kupplung und drei PS. 40 Euro zahlt Burkhard jeden Monat von der Sozialhilfe an Gerhard ab. Er mäht morgens ab acht Uhr das Gras im Umkreis von dreißig Kilometern. Bei jedem, der ihn ruft. Er macht es ohne Geld. Er will es so. Bloß kein Geld. Bloß keinen Schnaps. Er mäht auch dort, wo es gar nicht nötig wäre. Er ist stolz auf sein Mähen und den Krach, den er dabei macht.

Gerhard möchte nicht, dass es wie eine Wohngemeinschaft ist. Er ist störrisch, er zieht die Brauen zusammen, er ist hier die Autorität, er will Ordnung, Abgrenzung. Die Mauer. Das Draußen soll draußen bleiben. Er will nicht, dass die Dinge ins Gleiten geraten. Sitzt man erst mal zusammen, kommt auch bald der Suff. Der Suff macht alle zu Ungeheuern.

Es gibt niemanden, der anzuklagen wäre. Am wenigsten Gerhard, Heinz und Burkhard selbst. Sie sind da, und sie werden ihr Leben bis zur letzten Sekunde leben, abgeschottet hinter der Mauer aus Feldsteinen und den täglichen Ritualen. Ohne Aussicht auf Besserung, Erlösung, auf ein Entrinnen. Auf etwas, was einen in den schlimmsten Momenten aufrecht hält und das Weiterleben ermöglicht. Sie sind höflich und freundlich und nie überheblich oder verbittert, obwohl sie nie zum Zuge kamen. Irgendwie ist es so, als wäre bei ihnen schon am Anfang das Ende abzusehen gewesen. Sie sind Menschen, die zurechtkommen wollen und müssen mit den Mitteln, die sie haben.

Am Abend holen sich Heinz und Burkhard das bei Gerhard ab, was sie am nächsten Tag brauchen. Brot, Wurst, Käse, Margarine und Cola. Ab 20 Uhr ist jeder für sich. Gerhard im Haus, Heinz in der Laube, Burkhard im Stall. Drei Parabolantennen an den Dächern, die anzeigen, dass es genau so läuft. „Besser, du gibst den Hühnern einen Tag vorher nichts mehr zu fressen. Du hast dann nicht die Schweinerei mit den Körnern, die aus dem Kropf fallen, wenn der Kopf ab ist.“ Burkhards Blick hängt gegenüber an der Kante zwischen Decke und Wand. Er steht wieder an der Spüle, er raucht, die Kanne ist leer. Heinz sagt nichts. Er rülpst und macht „grrruik“, dazu eine Bewegung wie beim Halsumdrehen. Auch dieser Schluck war gut. Die Flasche ist noch nicht ganz leer. Er hat sie sich eingeteilt. Es ist halb acht.

„Gleich acht“, sagt Gerhard. Er langt sich die Kiste mit dem Tabak vom Herd, die Packung mit den Hülsen und den Filtern, die Vorrichtung zum Stopfen vom Regal. Nachher wird er vor dem Fernseher sitzen, Video gucken, heroische Filme, Kriegsfilme, „Der längste Tag“ oder „Die Brücke von Remagen“, und 150 Zigaretten dabei machen. Es ist der Tagesbedarf der drei. Aber die 150 reichen meistens nicht, werden wohl auch heute nicht reichen. Deshalb macht er jetzt schnell 30 nach. Die Abende auf Gerhards Hof sind lang und einsam.

Wochen später war ich noch einmal in Suhrhof. Ich wollte Gerhard den Film „Der Soldat James Ryan“ bringen. Den hatte er noch nicht. Als ich auf den Kopfsteinpflasterweg einbog, sah ich Rauch über dem Fichtenhain aufsteigen.

Den Freitag davor war Heinz ins Templiner Krankenhaus gekommen, und Gerhard verbrannte nun das Bett aus der Laube. Die Anbauwand, den Tisch, den Kühlschrank und den Gaskocher ließ er stehen, aber das Bett musste raus, es war am allerschlimmsten. Seit Heinz in der Laube gewohnt hatte, seit fünf Jahren, hatte darin niemand aufgeräumt oder sauber gemacht. Alles ist mit einer dunkelbraunen, schmierigen Schicht überzogen. Wie in einer Erdhöhle sieht es in der Laube aus. Der Heinz, sagt Gerhard, der Heinz wird wohl nicht mehr werden. Er hatte nichts mehr gegessen und selbst den Schnaps ausgespuckt. Und dann, am Freitagmorgen, hatte er Gerhard nicht mehr erkannt. Heinz hatte auch die Taube mit dem gebrochenen Flügel nicht mehr erkannt, die seit einem Vierteljahr bei ihm in der Laube wohnte. Er hatte die Axt geholt und war auf sie losgegangen.

Burkhard ist noch vor Heinz weg. Gerhard hat ihn vom Hof gejagt. Irgendwie war Burkhard an Geld gelangt, und abends hatte er sich Bauchfleisch gegrillt und angefangen, sich voll laufen zu lassen: zwei Flaschen Klarer und elf Flaschen Bier. Wollte endlich mal wieder Party haben, sagt er. Er sitzt an einer Feuerstelle in einem feuchten, tief gelegenen, schilfbestandenen Waldstück. Er hat Toni bei sich, den kleinen, lustigen Hund von Gerhard, den Fernseher und drei Schlafsäcke. Bald wird Burkhard im Obdachlosenheim in Mittenwalde sein. Der Winter, sagt er, ich muss, zu Gerhard darf ich nicht mehr, und mit dem Toni hier, was mach ich nur mit dem. Burkhard wird den Fernseher ins Heim mitnehmen, dann wird er erst mal fernsehen, mindestens eine Woche lang, und was im Frühjahr wird, wer weiß.

Wegen der Vogelgrippe hat Gerhard einen Teil der Hühner schlachten müssen. Der Schuppen, in den er die Tiere gesperrt hat, ist zu klein für alle. Von sechzig Hühnern hat er dreißig geschlachtet, jeden Tag zwei – und dann hat er sie vergraben. Er leidet. Wegen Heinz und wegen der Hühner.

THOMAS FEIX, 45, zu DDR-Zeiten Rinderzüchter, lebt als freier Autor in Berlin. Im taz.mag erschien zuletzt sein Porträt von Molly Luft