Auf eine Zigarette mit dem Weltgeist

THEORIE Eine verschworene Gemeinde feierte im Roten Salon der Volksbühne den 70. Geburtstag des verstorbenen Medientheoretikers und Risikodenkers Friedrich Kittler

Das Modell „Kittler“ ist längst zu einer eigenen Disziplin geworden und institutionalisiert

VON PHILIPP GOLL

Friedrich Kittler kam kurz nach dem Mauerfall nach Berlin. Wie so viele andere muss der Medienwissenschaftler dabei vom Weltgeist Hegels angelockt worden sein, der sich hier angeblich hatte blicken lassen, als der Sieg über den Sozialismus der Geschichte ein Ende bereitete. Doch als hätte es nie ein Ende der großen Erzählungen gegeben, richtete sich Kittler im Lehrstuhl der Humboldt-Universität ein und vollführte das intellektuelle Wagnis eines philosophischen Reenactments, indem er nichts Geringeres tat, als Hegel im eigenen Hause vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Suche nach der Poesie

Dem Geist muss ein materieller, genauer: ein medientechnischer Grund gegeben werden. In der Volksbühne feierten nun Freunde und Fans den 70. Geburtstag des 2011 verstorbenen Friedrich Kittler. Die Gemeinde fand sich dazu zahlreich im Roten Salon des Theaters ein. Im Mittelpunkt des Abends stand die Zeitschrift Tumult, die Kittler soeben eine ganze Ausgabe widmete: „Friedrich Kittler. Technik oder Kunst?“ Darin macht man es sich zur Aufgabe, in Kittlers unterkühlter Technikbesessenheit einen „Sinn für Poesie“ zu entdecken, wie Tumult-Herausgeber Walter Seitter und die Autorin Michaela Ott in der Heftpräsentation bemerkten.

Geisteswissenschaft nannte sich der Oberbegriff für Friedrich Kittlers Disziplin, als er Mitte der 60er seine akademische Karriere in Freiburg begann. Für ihn wurde sie zur Medienwissenschaft, da Geist für ihn allein in und durch Medientechniken Ausdruck fand.

„Nicht der Mensch schreibt“, tippte Kittler einmal in seine Schreibmaschine, „Techniken schreiben.“ Ins Zentrum seiner Gedicht- und Rocksonginterpretationen rückten Papier und Schreibgeräte, auch Drogen und Kriegstechnik. Denn, so lehrte Kittler: „Rockmusik – ein Missbrauch von Heeresgerät“. Moderne medientechnische Innovationen leitete Kittler stets aus Weltkriegen her. Dass sein Denken einmal Provokation war – nicht nur gegen überkommene literaturwissenschaftliche Fahndungen nach der Autorintention, sondern auch in seiner Verabschiedung des „sogenannten Menschen“, frei nach den französischen Poststrukturalisten, – davon merkte man an diesem Abend wenig. Das Modell „Kittler“ ist längst zu einer eigenen Disziplin geworden und institutionalisiert. Gefährliches Denken ist, wenn überhaupt, woanders angesagt, im Roten Salon an diesem Abend jedenfalls nicht. Immerhin gab’s eine exzessive Raucherpause, die dem Raucher Kittler gewidmet war, und im Hof wurde passenderweise ein Gespräch über das Rauchen zwischen ihm und Detflef Kuhlbrodt abgespielt.

Eine Ahnung von der Brisanz des Denkens Kittlers und dem Risiko, dem es ausgesetzt war, vermittelte allein Walter Seitter. In der Diskussion um Kittlers Geschichtsphilosophie mit den Kulturwissenschaftlern Peter Berz und Ana Ofak sowie der Psychoanalytikerin Mai Wegener wies Seitter auf das polemische Potenzial von Kittlers Schriften und auf seine Arbeit an einer „Gegengeschichte“ hin. Damit wurde ein Aspekt der intellektuellen Biografie des Medientheoretikers deutlich, die von den theoretischen Grabenkämpfen in der Bundesrepublik nicht ablösbar ist. Kittlers Freund, der Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit, erfand dafür einmal den Typus des „bösen Buben“. Dessen Kennzeichen: Eine intellektuelle Haltung, die sich selbst aussetzt, um einen autonomen und rücksichtslosen Blick zu erwerben – auf die Gefahr hin, sich selbst zu verzehren.